Zum Inhalt springen

Das HBTQ-Festival 2012 in Göteborg

  • von
Festivalprogramm

Mein Buch hat mir eine Einladung als Rednerin beim HBTQ-Festival in Göteborg verschafft. Neben den vielen persönlich interessanten Erfahrungen fiel mir auf, dass in Schweden doch einiges anders zu sein scheint, als in Deutschland, was die Trans-Szene und ihre gesellschaftliche Relevanz betrifft. Deshalb hier einige Anmerkungen.

1. Juni 2012

Anreise, Flug

Ein wenig mulmig war mir schon wegen des Fluges, weil ich wegen der Verzögerung des neuen Berliner Flughafens eine Maschine nehmen musste, die oft Kolleg/innen früh nach Berlin bringt. Aber heute nicht.

Eine kleine Irritation gibt es beim Check-In. Solange ich in weiblicher Rolle, aber mit männlichem Personalausweis geflogen bin, gab es sowas nie. Und auch niemand aus meinem Bekanntenkreis hatte dabei je Probleme. Aber jetzt, wo ich sogar im Personalausweis meinen Frauennamen habe, stutzt die Dame hinter dem Schalter. Der Name auf dem Ticket ist weiblich, der auf der Vorderseite des Personalausweises ein ganz anderer, männlicher. Als ich sie auf den kleinen Eintrag auf der Rückseite des Dokumentes hinweise, ist alles klar und sie entschuldigt sich, dass sie diesen Fall noch nicht hatte. Das Konzept des Künstlernamens scheint nicht sehr bekannt zu sein.

Atalanta, die mich zu dem Vortrag eingeladen hat, holt mich vom Flughafen ab. Sie ist sehr sympathisch und hat organisatorisch alles im Griff. Wir warten noch auf Christina, die aus Nordschweden eingeflogen kommt. Für die Wartezeit und ein erstes Beschnuppern lädt mich Atalanta zu einem Kaffee ein, den sie verblüffenderweise mit ihrer Kreditkarte bezahlt. Und zwar nicht, weil er so teuer ist, sondern weil man in Schweden auch Kleinbeträge mit der Karte zahlen kann.

Später lerne ich, dass das sogar für Fahrkarten in der Straßenbahn klappt. Sehr praktisch, wo die Schweden doch den Euro verweigert haben und ich mir erst noch Bargeld beschaffen müsste.

Schwedische Häuser
Schwedische Idylle

Atalanta fährt uns zu Angelica, die uns netterweise für das Wochenende Unterkunft gewährt. Angelica ist eine pensionierte Hochschullehrerin für Linguistik mit dem Schwerpunkt Deutsch. Sie spricht praktisch akzentfrei deutsch und zitiert gerne deutsche Klassiker. Kaum zu glauben, dass diese gebildete Dame erst vor ein paar Jahren die Welt für sich eroberte und davor ein unauffälliger, heterosexueller Mann mit Frau, Kindern und Enkelkindern war. Mittlerweile lebt sie offen und überwiegend als Frau und engagiert sich in Göteborg für die Belange von Transgendern. Sie wohnt in einem Viertel, das wie eine typische schwedische Kleinstadt aus meinen Klischeevorstellungen wirkt. Einfamilienhäuschen mit Holzfassaden, die in bunten Farben angemalt sind und davor ein Fahnenmast und ein Volvo.

Angelicas vierten Gast des Wochenendes, Anne lerne ich etwas später beim gemeinsamen Mittagessen kennen. Sie ist ebenso wie Christina (und natürlich Angelica und Atalanta) eine Aktivistin des FPES.

Gegen halb zwei fahren wir mit dem Taxi in die Stadt, weil eine andere vom FPES eingeladene Transgender dort ihren Vortrag hält. Es sind etwa 30 Leute im Raum, eine bunte Mischung aus Transmännern und –frauen sowie Angehörigen und Interessierten. Ashley hält einen Vortrag auf Schwedisch, von dem ich wenig verstehe. Sie ist Kapitänin in der Marine. Sicher eine Herausforderung, sich in einem solchen Umfeld als Transsexuelle zu bekennen.

Schwedisch

Ein wenig anstrengend finde ich die Sprachmischung während des Wochenendes. Bis auf Atalanta, die Deutsche ist, sind die anderen alle Schwedinnen und tendieren natürlicherweise dazu, sich untereinander auf schwedisch zu unterhalten. Blöd für mich: während geschriebenes Schwedisch relativ ähnlich dem Deutschen zu sein scheint und für mich halbwegs entzifferbar ist, komme ich bei der gesprochenen Sprache kaum mit. Netterweise reden die Mädels in meiner Anwesenheit auch untereinander meist Englisch. Und auch alle Leute, mit denen wir sonst so ins Gespräch kommen (und das sind viele!) wechseln, wenn ihnen meine Inkompetenz erläutert wird, sehr schnell ins Englische. Manche bieten mir auch ein Häppchen Deutsch an, das fast alle mal in der Schule gelernt haben. Aber das ist eher Höflichkeit und die meisten sind froh, wenn wir schnell wieder Englisch sprechen, das die meisten Schweden unabhängig von Alter und Bildungsstand recht gut beherrschen. So weit so gut.

Aber Angelica ist Linguistin mit Schwerpunkt Deutsch und spricht es so gut wie ihre Muttersprache. Wenn überhaupt ein Akzent hörbar ist, dann ist da ein wenig Österreichisch in ihrer Sprachmelodie. Weil die anderen es verstehen (wenn auch nicht gut sprechen) und Atlanta Deutsche ist und weil sie mir einen Gefallen tun will und weil Angelica voller Anekdoten und Zitate aus der deutschen Literatur ist, wird zwischendurch immer mal wiederein wenig deutsch gesprochen. Es ist ein lustiger Mix, aber am Ende jeden Abends merke ich, dass die Sprachmixerei auch anstrengend ist. Aber vor allem eben lustig.

Die Stadt

Weil die nächsten Vorträge ebenfalls auf Schwedisch sein werden, gehe ich statt dessen lieber auf einen Bummel durch die Innenstadt. Dafür habe ich auch Gründe, denn natürlich habe ich wieder was vergessen: Lippenstift und Haarbürste, Beim Shopping in der City stelle ich schnell fest, dass es hier es wunderschöne Sommerkleidung zu erstaunlich günstigen Preisen gibt. Da musste ich doch zuschlagen.

Das Festival

Göteborg wurde erst im 17. Jahrhundert gegründet und macht einen sehr modernen Eindruck. Die Innenstadt durchschneidet eine breite Allee, in deren Umfeld sich nicht nur ein riesiges überdachtes Einkaufszentrum und viele Geschäfte, sondern auch einige historische Gebäude befinden. Obwohl es eine Straßenbahn gibt und viele Busse verschätze ich mich hinsichtlich der Einwohnerzahl beträchtlich. Alles wirkt so übersichtlich, so heimelig. Ich hätte nie geglaubt, dass Göteborg tatsächlich eine halbe Million Einwohner hat.

Die Vorträge, wie auch meiner, sind Teil des HBTQ-Festivals, das ein beeindruckend dickes Programmheft hat. Viel beeindruckender aber ist die Präsenz des Festivals in der Stadt. Schon an der Autobahn hatte ich ein Hinweisschild gesehen. Auch an der Oper hängt ein großes Transparent und überall in der Stadt sind Regenbogenfahnen geflaggt. Über 700 Regenbogenflaggen sind überall in der Stadt verteilt. Sogar das Reiterstandbild eines schwedischen Königs wurde mit einem Regenbogenschal verziert.

Das Festival selbst dauert eine Woche und wird vor allem von verschiedenen Queer-Verbänden und allen voran dem großen RFSL getragen. Mit dabei auch die Transgender-Organisation FPES, der ich die Einladung verdanke. Obwohl dieFPes aus einem reinen Transvestitenverein nach amerikanischen Muster hervorgegangen ist, verstehen sie sich heute als Teil der queer-Familie. Alle Transidenten und ihnen Nahestehenden sind willkommen.

Sehr bemerkenswert finde ich das Roll-Up mit dem tollen Familienbild in zwei verschiedenen Versionen.

Das ist an sich schon Klasse. Aber wieso nur kommt mir das Bild so bekannt vor?

Als ich wieder zurück in Nürnberg bin, stoße ich in der Zeitung auf dieses Bild:

Ach so! 🙂

Auffällig war, dass das Festival sehr viel mehr in der Mitte der Gesellschaft stattfindet als bei uns die CSD-Veranstaltungen. Mehr Information, mehr Öffentlichkeitsarbeit und eine sehr viel breitere Beteiligung. Neben Vereinen und Organisationen die nicht queer sind, beteiligen sich auch öffentliche Einrichtungen sehr aktiv: Kommunen, die Polizei, die Universität und viele andere.

Anders als bei deutschen CSDs, wo Transen trotz der Geschichte der CSD (remember Stonewall!), eher Randfiguren sind, gehören sie hier ganz selbstverständlich dazu und sind integrativer Teil der queeren Community.

Darüberhinaus scheinen die schwedischen Transgender deutlich besser organisiert zu sein als wir hier in Deutschland. Es gibt verschiedene Verbände, die jedoch gut zusammenzuarbeiten scheinen. Mehrfach wurde mir von verschiedenen Aktivistinnen und Aktivisten gesagt, es käme doch schließlich darauf an, sich auf das Gemeinsame zu konzentrieren und nicht auf das Trennende. Eine Position, die mir so in Deutschland noch nicht untergekommen ist, wo sich alle mehr darauf konzentrieren, sich voneinander abzugrenzen und Partikularinteressen betonen.

Die Szene in Deutschland nehme ich als sehr viel separierter wahr. Weder gibt es eine echte Integration der transidenten Menschen in die Schwul-lesbische Gemeinschaft noch gibt es Organisationen mit gesellschaftlicher Relevanz. Sind wir zurück oder sind wir weiter? Ist nicht vielleicht die Zeit der Organisationen vorbei und inzwischen die Zeit der Netzwerke ohne feste Bindung gekommen, die sich situativ bemerkbar machen? In Schweden gibt es die Verbände und sie arbeiten zusammen und finden Zugang zur Politik. Dabei konzentrieren sich sich stark auf die gemeinsamen Interessen, statt wie mir das in Deutschland manchmal vorkommt, danach zu schauen, was einen trennen könnte. Das Thema ist die gesellschaftliche Akzeptanz und die Sichtbarkeit in der Gesellschaft und es ist sogar breiter als das Thema “queer”. Gemeinsame Arbeit wird auch mit den Antidiskriminierungsbeauftragten geleistet oder auch der feministischen Bewegung.

Aber natürlich liegen sich auch in Schweden nicht alle friedlich in den Armen. Dass es anders sein kann, erfahre ich durch einen Vorfall bei einem Vortrag. Die „transmilitanten Brigaden“ haben eine Veranstaltung der Polizei zu Hate-Crimes in Schweden gestört, es kam angeblich auch zu Festnahmen.

Die Problemlagen in der Gesellschaft sind nicht ganz die Gleichen, wie bei uns in Deutschland. Keinerlei Probleme gibt es mit der Änderung des Vornamens. Die ist in einem schlichten Verwaltungsverfahren auf Antrag beliebig möglich undinnerhalb von zwei Wochen erledigt.

Wieso man in Deutschland bei den Vornamen so ein Aufhebens macht, habe ich sowieso nicht verstanden. Das Namensänderungsgesetz in Deutschland stammt im Kern von 1938! Seit dem hat sich verwaltungstechnisch einiges getan und es ist heutzutage nicht mehr nachvollziehbar, warum es so ein Problem sein muss, den Namen zu ändern. Heute ist doch jede Person über Register bei Kommunen und Sozialversicherungen identifizierbar. Das Ärgernis bezieht sich übrigens auch auf Nachnamen und betrifft nicht bloß uns Transgender. Es kann viele Gründe geben, sich einen neuen Namen zu wünschen.

Auf der anderen Seite: in Schweden gibt es Geschlechtsmerkmale in den Identitätspapieren und nach wie vor Operations- bzw Kastrationszwang, wenn der Personenstand geändert werden soll. Nun gut, wir hätten in Deutschland auch immer noch die vom TSG angeordnete Zwangskastration, wenn das BVerfG dem nicht einen Riegel vorgeschoben hätte.

Die Zelte

Ein wichtiger Teil der Öffentlichkeitsarbeit sind die Infozelte im Park. Dort präsentieren sich die einzelnen Organisationen. Die Stadt, das Antidiskriminierungsbüro, die Parteien und natürlich alle queeren Organisationen sind vertreten.

Die FPES ist natürlich auch da. Das Zelt ist täglich von morgens bis abends besetzt und es werden Flyer verteilt, Fragen beantwortet, aber auch Passanten aktiv angesprochen. Bei einem Rundgang mit Atalanta, die alle Leute zu kennen scheint, lerne ich viele Personen kennen, denen ich in den nächsten Tagen immer mal wieder begegne. Alle sind freundlich und aufgeschlossen.

Die Verknüpfung mit der Politik ist eng. Mehrfach wird darauf hingewiesen, dass Göteborg – was die Diskriminierungsthematik angeht, eine schlechte Vergangenheit und einen üblen Ruf hat. Dagegen kämpft man nun aktiv an. Entsprechend stark engagieren sich die Stadt, die Universität und andere Organisationen.

Ich lerne eine konservative Bezirksbürgermeisterin kennen, die das Zelt ihrer Partei betreut. Sie ist sehr für queere Belange und Antidiskriminierung aktiv. Bei uns habe ich noch nie CDU-Stände auf einem CSD gesehen.

Der Abend

Zum Abendessen gehen wir mit einigen Leuten in ein Lokal im Zentrum. Es gibt internationale Küche und schwedisches Bier. Gegen Ende der Mahlzeit erfahre ich eine Menge über eine der berühmtesten und berüchtigsten schwedischen Spezialitäten: den Surströmming. Es stimmt gar nicht, dass man das Zeug unter Wasser aufmacht – das verdirbt nämlich angeblich den Geschmack. Aber man muss sehr, sehr vorsichtig sein … und den Nachbarn vorher warnende Zettel in den Briefkasten werfen, bevor man daheim eine Surströmming-Mahlzeit macht. Christina versichert, wenn man einmal in Island „sauren Hai“ gegessen hätte, könne einen sowieso nichts mehr erschüttern, dagegen sei Sürstromming wie Maiglöckchen.

Einig waren sich aber die Schwedinnen, dass die Spezialität den Gestank, den Ärger mit den Nachbarn und das Risiko explodierender Dosen wert ist. Ich glaube, ich muss mal im August nach Schweden und mich zu einer solchen Mahlzeit einladen lassen. Denn das Öffnen der Dosen setzt Erfahrung voraus, wenn man die Kleidung nicht hinterher als Sondermüll entsorgen will.

Zum Abschluss des Abends fahren wir noch in eine Kneipe namens Haket. Dort scheint jeder jeden zu kennen. Oder bin ich bloß mit Leuten unterwegs, die alle kennen?

Tagsüber hatte ich es noch für Zufall gehalten, aber hier im Haket wird es zur Gewissheit: In den Lokalen gibt es fast nur Unisex-Toiletten. Wie kann das sein? Haben die in Schweden etwa keine “Gaststättenbauverordnung”? Und wenn nein, wie kann ein Land mit solch ungeregelten Zuständen leben? Und wieso gibt es keine Proteste, wenn nicht nur die Frauen, sondern auch die Männer vor Toiletten geduldig warten müssen?

Das Haket ist eine Kneipe, wie man sie sich wünscht, aber nur selten findet. Die bunte Mischung der Leute ist erstaunlich und noch erstaunlicher ist, das praktisch jeder mit jedem redet. Man kommt mit den Leuten unheimlich leicht ins Gespräch und sie sind sehr herzlich und offen. Im Haket mischen sich junge Leute, queeres Publikum und Universitätsprofessoren. Alles wirkt sehr familiär. Ich verbringe den Abend mit vielen interessanten Gesprächen. Ein wenig ist es so, als käme man in einen Raum mit lauter Bekannten. Und ich spreche nicht mal schwedisch.

2. Juni

Das Wetter ist viel besser als angekündigt, aber der Wind macht es frisch. Halbwegs ausgeschlafen haben wir im Garten gefrühstückt. Während einige schon in die Stadt losziehen, um das Zelt zu betreiben, bleibe ich im sonnigen Garten und habe Zeit unter dem Eindruck der gestrigen Gespräche den Vortrag nochmal zu überarbeiten. nachdem mir gestern in den Gesprächen viele neue Ideen gekommen sind. Nun sollte es passen.

Mein Vortrag findet sich auf S. 56 des fast 80 Seiten dicken Programmheftes. So viele Vorträge und Veranstaltungen! Auch diesbezüglich nehme ich Unterschiede zu den deutschen CSDs wahr. In Göteborg ist die Parade der Abschluss einer sehr inhaltsreichen Woche. In Deutschland sind die Informationsangebote eher so etwas wie eine Dreingabe zu dem Hauptevent Parade.

Ich referiere über das Thema „How to live happily as a transgendered person“. Nein, es ist nicht selbstverständlich, als Transgender glücklich zu leben. Wenn ich meinen Vortrag, der nur als englischer Stichwortzettel mit ein paar Folien existiert, endlich auf Deutsch übersetzt und ausformuliert habe, werde ich ihn hier bereitstellen.

Referentin
Während meines Vortrags

Mein Vortragsraum befindet sich in der Musikhochschule und ich muss etwas suchen, bevor ich ihn in einem Seitentrakt überhaupt finde. Das macht mich skeptisch, wie viele Interessierte an einem fremdsprachigen Vortrag zu einem Transgender-Thema wohl den Weg in diesen abgelegenen Raum finden werden. Letztendlich waren es bloß zehn Leute, die sich in meinen Vortrag verirrt haben. Schade, da hatte ich mir mehr erhofft. Aber ich lerne Eva kennen, die Geschichtswissenschaftlerin ist und sich mit Genderaspekten von Kleidung beschäftigt. Das könnte interessant werden.

Eine weitere Zuhörerin, die ich später noch näher kennenlerne, ist Shiera, die schöne TS aus Malaysia, die sich hier in Europa durchschlägt und liebevoll in die Gruppe aufgenommen wurde. Letztlich lebt sie ein bewundernswertes Konzept, für das wohl die meisten Menschen zu schwach wären: sich in einem fremden Land, in einem fremden Erdteil als einzelne Person mit einem solchen Thema durchzuschlagen erfordert ein starkes Rückgrat.

Kritische Äußerungen zu meinem Vortrag kamen von einem Transmann: er fand meine Darstellung zu positiv, zu optimistisch. Aus seiner Position gesehen, ist sie das vermutlich auch. Er lebt auf einer kleinen Insel vor der schwedischen Küste. In dem Dorf kennt jeder jeden und das schon seit der Geburt. Das sind die Umfelder für die gilt, dass man nicht selbst wissen muss, wer man ist, weil alle anderen wissen, wer man ist. Da ist es dann besonders schlimm, wenn alle anderen sich vom Äußeren täuschen lassen.

Als wir Richtung Abendessen unterwegs sind, vergrößert sich unsere Gruppe beständig. Schließlich sind wir fast ein Dutzend und es fängt an schwierig zu werden, ein Lokal zu finden, das einen so großen freien Tisch hat. Obwohl Essengehen in Schweden kein wirklich billiges Vergnügen ist, sind die Lokale gut besucht.

Nach kurzer Suche finden wir etwas, das sogar im modernen Schweden (wie erwähnt, kann man praktisch überall mit Kreditkarte oder sogar Mobiltelefon bezahlen) etwas Besonderes ist: statt Papierkarten gibt es Tablet-PCs mit der Karte. Und bevor man das Angebot an Alkoholika sehen darf, muss man bestätigen, dass man erwachsen ist.

Die Party

Wir fahren mit der Straßenbahn zu der groß angekündigten Party.

Ein Partyraum voller netter Leute, im Wesentlichen die gleiche Mischung, die man auch bei uns bei solchen Veranstaltungen findet. Die Trannies, die Schwulen und Lesben, die lustig gekleideten Mädchen, die Goths. Alle friedlich und fröhlich beieinander. Wie schön hier zu sein.

Julia ist eine Trannie der man überhaupt nicht ansehen kann, dass sie körperlich ein Mann ist. Sie ist mit ihrem Mann da. Seit mehr als 20 Jahren sind sie ein Paar. Unfassbar, dass sie keinerlei körperliche Anpassungsmaßnahmen hat vornehmen lassen. Wozu auch, wenn man so aussieht? Da wird man als weniger vom Glück begünstigte schon ein wenig neidisch.

Außerdem lerne ich eine sympathische Frau kennen, die zur Gruppe der „stolzen Eltern“ gehört. Die „stolzen Eltern“ sind eine Organisation von und für Eltern schwuler und lesbischer Kinder, die es wohl auch in Deutschland gibt.

Zurück nach Hause geht es so gegen 3 Uhr. Verblüffenderweise fährt die Straßenbahn nicht nur – sie ist auch ziemlich voll.

Ich glaube, ich fahre seit einiger Zeit dauernd schwarz mit der Tram. Angelica hat mir zwar versichert, die Karte, die sie mir gegeben hat, wäre ausreichend, aber ich glaube, sie irrt sich. Als ich meinen Verdacht anspreche, reagieren meine Begleiterinnen alle sehr entspannt. Das könne man im Falle einer Kontrolle doch damit erklären, dass ich fremd sei. Kein Problem. Schweden scheint wirklich in vieler Hinsicht entspannter zu sein, als Deutschland.

3. Juni

Immerhin hatte ich noch sechs Stunden Schlaf von 4 bis 10. Ich war froh über die Verdunklungsvorhänge in meinem Schlafraum, denn um 4 Uhr ist in dieser Gegend die Sonne schon wieder aufgegangen.

Parade

Heute ist die große Parade, von der mir Angelica und Atalanta vorgeschwärmt haben. Alles viel mehr in der Mitte der Gesellschaft, verglichen mit deutschen CSD-Paraden. Weniger Wagen, weniger Party, aber viele Fußgruppen. Von den „schwulen Pfadfindern“ über die Kirche und Trachtengruppen bis hin zu den Rollerderby-Girls ist alles dabei.

Es steht viel Publikum am Straßenrand. Ich habe den Eindruck, dass wir als Tranniegruppe von vielen aufmerksam betrachtet und auch sehr gerne fotografiert werden. Vollkommen selbstverständlich ist unsere Sorte Frau also doch nicht in Schweden. Aber das Interesse ist freundlich und viele Menschen lachen uns zu. Aggression oder Ablehnung ist die absolute Ausnahme.

Der Zug führt von der Oper über die breite Avenue bis hin zum Liseberg Vergnügungspark. Vor der großen Bühne mischen sich Paradeteilnehmende und das Sonntagspublikum im Park. Die Liseberg-Maskottchen (grüne Hasen) tanzen mit den Zugteilnehmern.

Irgendwie finde ich es sehr typisch, dass ein kommerzieller und auf „Familien mit kleinen Kindern“-Bespaßung ausgerichteter Vergnügungspark die Endstation der Parade ist und die Mitlaufenden alle umsonst in den Park gelassen werden. Ein weiteres Indiz dafür, dass das HBTQ-Festival sehr viel bürgerlicher ist, als ein üblicher CSD in Deutschland.

Alles ist sehr nett und familiär. Inzwischen treffe ich selbst hier Bekannte. (Göteborg hat wirklich eine halbe Million Einwohner!) Die „stolze Mutter“ eines schwulen Jungen, die ich gestern bei der Party kennengelernt habe, ist selbstverständlich auch da. Wir begrüßen uns wie alte Freundinnen. Abends sitzen Atalanta, Angelica und ich noch bei einem Wein zusammen und resümieren das Wochenende bzw. die Festivalwoche.

Wir sind alle sehr zufrieden. Über das Festival, die Vorträge und darüber, dass wir uns kennenlernen durften.

4. Juni

Angelica, die Unermüdliche, immer Fröhliche weckt mich um 4 Uhr. Immerhin ist es draußen schon hell. 6.50 geht mein Rückflug.

Sie fährt mich hinaus nach Landsvetter und wir verabschieden und herzlich. Wir wünschen uns gegenseitig, dass wir uns wiedersehen und ich hoffe sehr, dass das klappt. Die Schwedinnen haben sich mit ihrer netten, unkomplizierten, liebevollen Art einen Platz in meinem Herzen gesichert!

Beim Einchecken gibt es schon wieder und wieder letztlich unproblematisch Irritationen wegen meines Ausweises. Der Frauenname auf der Rückseite ist doch etwas schwer zu sehen.

Ich habe noch etwas Zeit und finde als Andenken für mich an diese Reise noch eine schöne Halskette.

Kurz nach 10 Uhr bin ich pünktlich wieder in Nürnberg und ein traumhaftes Wochenende ist vorbei.

Resumee

Was bleibt mir von dem verlängerten Wochenende?

  • Die Erinnerung an eine freundliche Stadt und ein schönes Land.
  • Der Eindruck, dass Schweden bezüglich der Integration von Schwulen, Lesben und Transgendern weiter zu sein scheint als Deutschland.
  • Das Wissen, dass auch Schweden kein Paradies ist, denn kurze Zeit später erregt auch hier in Deutschland ein Urteil Aufmerksamkeit, nachdem man eine Transsexuelle nicht vergewaltigen könne, weil sie keine Frau sei.
  • Aber vor allem: Eine Handvoll neuer, sehr lieber Freundinnen, die ich hoffentlich wieder sehen werde.

Mehr zum Thema

© Jula 2012

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.