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EUGH C-13/94

  • von

Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, Urteil vom 30. April 1996, Az: C-13/94

EWGVtr Art 177, EWGRL 207/76 Art 5 Abs 1

Gleichbehandlung von Männern und Frauen – Entlassung einer transsexuellen Person

Urteil des Gerichtshofes vom 30. April 1996. – P gegen S und Cornwall County Council. – Ersuchen um Vorabentscheidung: Industrial Tribunal, Truro – Vereinigtes Königreich. – Gleichbehandlung von Männern und Frauen – Entlassung einer transsexuellen Person. – Rechtssache C-13/94.

Sammlung der Rechtsprechung 1996 Seite I-02143

Schlüsselwörter

Sozialpolitik, Männliche und weibliche Arbeitnehmer, Zugang zur Beschäftigung und Arbeitsbedingungen, Gleichbehandlung, Richtlinie 76/207, Entlassung einer transsexuellen Person aus einem mit der Umwandlung ihres Geschlechts zusammenhängenden Grund, Unzulässigkeit

(Richtlinie 76/207 des Rates, Artikel 5 Absatz 1)

Leitsätze

Artikel 5 Absatz 1 der Richtlinie 76/207 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in bezug auf die Arbeitsbedingungen steht im Hinblick auf das mit dieser Richtlinie verfolgte Ziel der Entlassung einer transsexuellen Person aus einem mit der Umwandlung ihres Geschlechts zusammenhängenden Grund entgegen. Da nämlich das Recht, nicht aufgrund des Geschlechts diskriminiert zu werden, eines der Grundrechte des Menschen darstellt, kann der Anwendungsbereich der Richtlinie nicht auf die Diskriminierungen beschränkt werden, die sich aus der Zugehörigkeit zu dem einen oder dem anderen Geschlecht ergeben. Er hat sich auch auf die Diskriminierungen zu erstrecken, die ihre Ursache in der Geschlechtsumwandlung haben, da diese Diskriminierungen hauptsächlich, wenn nicht ausschließlich, auf dem Geschlecht des Betroffenen beruhen, denn eine Person, die entlassen wird, weil sie beabsichtigt, sich einer Geschlechtsumwandlung zu unterziehen, oder sich ihr bereits unterzogen hat, wird im Vergleich zu den Angehörigen des Geschlechts, dem sie vor dieser Operation zugerechnet wurde, schlechter behandelt.

Entscheidungsgründe

1 Das Industrial Tribunal Truro hat mit Beschluss vom 11. Januar 1994, beim Gerichtshof eingegangen am 13. Januar 1994, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag zwei Fragen nach der Auslegung der Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in bezug auf die Arbeitsbedingungen (ABl. L 39, S. 40; im folgenden: Richtlinie) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen P. auf der einen sowie S. und dem Cornwall County Council auf der anderen Seite.

3 Die Klägerin des Ausgangsverfahrens, P., war als Geschäftsführer in einer Bildungseinrichtung tätig, die zur maßgeblichen Zeit vom Cornwall County Council, der örtlich zuständigen Verwaltungsbehörde, betrieben wurde. Ein Jahr nach ihrer Einstellung, Anfang April 1992, teilte P. dem Ausbildungsleiter und für Verwaltungs- und Finanzangelegenheiten der betreffenden Einrichtung zuständigen Direktor, S., ihre Absicht mit, sich einem Verfahren der Geschlechtsumwandlung zu unterziehen. Dieses Verfahren begann mit einem „life test“ genannten Zeitraum, in dem sich P. wie eine Frau kleidete und benahm; im Anschluss daran erfolgten chirurgische Eingriffe, die P. die körperlichen Merkmale einer Frau verleihen sollten.

4 Nachdem sich P. einer chirurgischen Behandlung durch kleinere Eingriffe unterzogen hatte, erhielt sie Anfang September 1992 eine fristgemäße Kündigung zum 31. Dezember 1992. Der abschließende operative Eingriff erfolgte vor Wirksamwerden der Kündigung, aber nach ihrer Zustellung.

5 P. erhob beim Industrial Tribunal Klage gegen S. und den Cornwall County Council mit der Begründung, sie sei Opfer einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts geworden. S. und der Cornwall County Council trugen vor, P. sei wegen Personalüberhangs entlassen worden.

6 Aus dem Vorlagebeschluss ergibt sich, daß der wahre Grund für die Entlassung das Vorhaben von P. war, das Geschlecht zu wechseln, auch wenn es innerhalb der Einrichtung tatsächlich einen Personalüberhang gab.

7 Das Industrial Tribunal stellte weiter fest, daß ein solcher Fall nicht vom Sex Discrimination Act (Gesetz über die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts) 1975 erfasst werde, da das englische Recht nur die Fälle regele, in denen eine Frau oder ein Mann wegen der Geschlechtszugehörigkeit unterschiedlich behandelt werde. Nach dem englischen Recht gelte P. weiterhin als Person männlichen Geschlechts. Wäre P. vor der geschlechtsumwandelnden Operation weiblichen Geschlechts gewesen, so hätte der Arbeitgeber sie wegen dieser Operation ebenfalls entlassen. Das vorlegende Gericht hat sich jedoch gefragt, ob diese Situation nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie fällt.

8 Nach Artikel 1 Absatz 1 der Richtlinie hat diese zum Ziel, dass in den Mitgliedstaaten der Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen insbesondere hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, einschließlich des Aufstiegs, des Zugangs zur Berufsbildung und in bezug auf die Arbeitsbedingungen verwirklicht wird. Dieser Grundsatz der Gleichbehandlung impliziert nach Artikel 2 Absatz 1 der Richtlinie, „dass keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts … erfolgen darf“.

9 Außerdem stellt nach der dritten Begründungserwägung der Richtlinie die Gleichbehandlung von männlichen und weiblichen Arbeitnehmern eines der Ziele der Gemeinschaft dar, soweit es sich insbesondere darum handelt, auf dem Wege des Fortschritts die Angleichung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitskräfte zu fördern.

10 Da das Industrial Tribunal im Zweifel darüber war, ob die Richtlinie weiter reicht als die nationalen Rechtsvorschriften, hat es das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Stellt die Entlassung einer transsexuellen Person aus einem mit einer Geschlechtsumwandlung („gender reassignment“) zusammenhängenden Grund im Hinblick auf das Ziel der Richtlinie 76/207/EWG, das nach Artikel 1 in der Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung usw. besteht, einen Verstoß gegen die Richtlinie dar?

2. Untersagt Artikel 3 der Richtlinie, der die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts betrifft, eine auf dem Transsexualismus eines Arbeitnehmers beruhende Behandlung dieses Arbeitnehmers?

11 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass Artikel 3 der Richtlinie, auf den das vorlegende Gericht Bezug nimmt, die Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zur Beschäftigung betrifft.

12 Eine Entlassung, wie sie im Ausgangsrechtsstreit erfolgte, ist aber im Hinblick auf Artikel 5 Absatz 1 der Richtlinie zu prüfen; dieser bestimmt:

„Die Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung hinsichtlich der Arbeitsbedingungen einschließlich der Entlassungsbedingungen beinhaltet, dass Männern und Frauen dieselben Bedingungen ohne Diskriminierung aufgrund des Geschlechts gewährt werden.“

13 Die beiden Vorabentscheidungsfragen, die gemeinsam zu prüfen sind, sind folglich so zu verstehen, dass sie dahin gehen, ob Artikel 5 Absatz 1 im Hinblick auf das Ziel der Richtlinie der Entlassung einer transsexuellen Person aus einem mit der Umwandlung ihres Geschlechts zusammenhängenden Grund entgegensteht.

14 Die Regierung des Vereinigten Königreichs und die Kommission tragen vor, die Entlassung einer Person wegen ihres Transsexualismus oder wegen einer geschlechtsumwandelnden Operation stelle keine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts im Sinne der Richtlinie dar.

15 Zur Begründung dieser Schlussfolgerung macht die Regierung des Vereinigten Königreichs insbesondere geltend, aus dem Vorlagebeschluss ergebe sich, dass der Arbeitgeber P. auch entlassen hätte, wenn sie vorher eine Frau gewesen wäre und sich einer Operation unterzogen hätte, um ein Mann zu werden.

16 Zunächst ist zu bemerken, dass, wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte festgestellt hat, „unter ‚Transsexuellen‘ gewöhnlich solche Personen zu verstehen sind, die, obwohl sie körperlich dem einen Geschlecht angehören, das Gefühl haben, sie gehörten dem anderen Geschlecht an; sie versuchen häufig, zu einer kohärenteren und weniger zweifelhaften Identität zu gelangen, indem sie sich einer ärztlichen Behandlung und chirurgischen Eingriffen unterziehen, um ihre körperlichen Merkmale ihrer Psyche anzupassen. Die in dieser Weise operierten Transsexuellen stellen eine recht gut bestimmte und definierbare Gruppe dar“ (Urteil Rees vom 17. Oktober 1986, Serie A, Band 106, Nr. 38).

17 Ferner bedeutet der Grundsatz der Gleichbehandlung „von Männern und Frauen“, auf den sich die Richtlinie in ihrem Titel, ihrer Präambel und ihren Vorschriften bezieht, wie insbesondere aus den Artikeln 2 Absatz 1 und 3 Absatz 1 hervorgeht, „dass keine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts erfolgt“.

18 Die Richtlinie ist somit nur eine Ausprägung des Gleichheitsgrundsatzes, der eines der Grundprinzipien des Gemeinschaftsrechts darstellt, in dem betreffenden Bereich.

19 Wie der Gerichtshof außerdem bereits wiederholt festgestellt hat, stellt das Recht, nicht aufgrund des Geschlechts diskriminiert zu werden, eines der Grundrechte des Menschen dar, deren Einhaltung er zu sichern hat (vgl. Urteile vom 15. Juni 1978 in den Rechtssachen 149/77, Defrenne, Slg. 1978, 1365, Randnrn. 26 und 27, und vom 20. März 1984 in den Rechtssachen 75/82 und 117/82, Razzouk und Beydoun/Kommission, Slg. 1984, 1509, Randnr. 16).

20 Unter diesen Umständen kann der Anwendungsbereich der Richtlinie nicht auf die Diskriminierungen beschränkt werden, die sich aus der Zugehörigkeit zu dem einen oder dem anderen Geschlecht ergeben. In Anbetracht ihres Gegenstands und der Natur der Rechte, die sie schützen soll, hat die Richtlinie auch für Diskriminierungen zu gelten, die ihre Ursache, wie im vorliegenden Fall, in der Geschlechtsumwandlung des Betroffenen haben.

21 Denn solche Diskriminierungen beruhen hauptsächlich, wenn nicht ausschließlich, auf dem Geschlecht des Betroffenen. Wenn also eine Person entlassen wird, weil sie beabsichtigt, sich einer Geschlechtsumwandlung zu unterziehen, oder sich ihr bereits unterzogen hat, wird sie im Vergleich zu den Angehörigen des Geschlechts, dem sie vor dieser Operation zugerechnet wurde, schlechter behandelt.

22 Würde eine solche Diskriminierung toleriert, so liefe dies darauf hinaus, dass gegenüber einer solchen Person gegen die Achtung der Würde und der Freiheit verstoßen würde, auf die sie Anspruch hat und die der Gerichtshof schützen muss.

23 Ihre Entlassung ist unter diesen Umständen als unvereinbar mit Artikel 5 Absatz 1 der Richtlinie anzusehen. Etwas anderes würde nur dann gelten, wenn die fragliche Entlassung gemäß Artikel 2 Absatz 2 der Richtlinie gerechtfertigt werden konnte. Die Akten enthalten jedoch keinen Anhaltspunkt dafür, dass dies im Ausgangsfall zutraf.

24 Aus dem Vorstehenden folgt, dass auf die Fragen des Industrial Tribunal zu antworten ist, dass Artikel 5 Absatz 1 der Richtlinie im Hinblick auf das mit der Richtlinie verfolgte Ziel der Entlassung einer transsexuellen Person aus einem mit der Umwandlung ihres Geschlechts zusammenhängenden Grund entgegensteht.

Kostenentscheidung

Kosten

25 Die Auslagen der Regierung des Vereinigten Königreichs und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor

Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
auf die ihm vom Industrial Tribunal Truro mit Beschluss vom 11. Januar 1994 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

Artikel 5 Absatz 1 der Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in bezug auf die Arbeitsbedingungen steht im Hinblick auf das mit dieser Richtlinie verfolgte Ziel der Entlassung einer transsexuellen Person aus einem mit der Umwandlung ihres Geschlechts zusammenhängenden Grund entgegen.

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