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Veränderungen

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„Was genau willst du eigentlich?“

Das ist die Frage, die mir meine Frau stellte, als sie das herausgefunden hatte, was ich ihr jahrelang nicht zu sagen gewagt hatte. Damals hatte ich keine Antwort darauf. Das war schlecht, denn ich wusste auch keine Antwort auf die Frage „Wo wird das alles enden?“ Mit jedem Schritt, den ich getan habe, haben sich meine Wünsche verändert. Das merke ich besonders jetzt, wo ich so viele Chancen zur Verwirklichung meiner Träume habe, wie noch nie zuvor in meinem Leben, wenn auch immer noch nicht genug („Genug ist nicht genug. Genug kann nie genügen!“ K. Wecker).

Speziell die Frage, wo und wie das alles enden soll, quält viele Transgender, die noch nicht da sind, wo sie ihr Inneres gerne hätte. Die Angst, Unwiederbringliches zu zerstören, wenn man seinen Wünschen nachgibt, ist riesig und führt häufig dazu, dass man sich selbst „gefangenhält“. Deshalb habe ich eben das selbst sehr lange getan, doch dann habe ich mich freigelassen. Ich habe angefangen, die Dinge tatsächlich zu tun und auszuprobieren, die ich mir wünschte. Und das hat mich verändert. Um meinen Weg deutlich zu machen, erzähle ich davon, wo ich war und wo ich nun bin.

Kopfkino

Ich weiß gar nicht genau, wie alt ich war, als ich bemerkte, dass die Frage Mann oder Frau (oder damals eher Junge oder Mädchen) zu sein, für mich nichts Selbstverständliches, sondern ein echtes Problem war. Jedenfalls war ich noch sehr jung, etwa im Kindergartenalter, als ich begann darüber nachzudenken, wie es wäre, kein Junge zu sein. Es war schon Abenteuer genug, mir bloß vorzustellen, wie es wäre, ein Mädchen zu sein. Ich weiß noch, dass meine Grübeleien sehr häufig damit endeten, dass ich aus praktischen Gründen („Jungs müssen keine Hausarbeit machen, wenn sie nicht wollen“), froh war, ein Junge zu sein.

Etwas später (so ab der Pubertät) saugte ich begierig alles auf, was mir zu der Thematik in die Hände fiel. Ich war glücklich, wenn ich einen Travestiekünstler im Fernsehen sah oder dort ein Film (wie klamottenartig grottenschlecht auch immer. Heute erinnere ich mich schaudernd an die „Tantenfilme“) mit Männern in Frauenkleidern lief. Ich lernte die Fremdworte „Transvestit“ und „transsexuell“ und schaute in allen Lexika nach, was dort zu den Begriffen stand. Ich hoffte inständig, keins von beiden zu sein und war trotzdem begeistert, wenn in Romanen, die ich las, eine Figur auftauchte, die sich als jemand des anderen Geschlechtes verkleidete.

Ein bisschen Seide

Danach, und diese Phase dauerte über die Pubertät bis in die jüngere Vergangenheit, also die weitaus überwiegende Zeit meines Erwachsenenlebens (okay, ich geb’s ja zu, es sind mehr als 25 Jahre), kam die Zeit der weiblichen Kleidungsstücke. Ich war ca. 14 als ich mir in einem Kaufhaus in Frankfurt meine erste eigene Nylonstrumpfhose kaufte (sie war kritzegrün und passte nicht richtig). Der Kauf selbst war so aufregend wie nichts, was ich in meinem Leben vorher getan hatte, und es machte mich glücklich, das zwickende Ding zu tragen. So ging es dann mit gewissen Steigerungen viele Jahre dahin. Ich war froh, wenn ich alle paar Tage oder auch Wochen mal für kurze Zeit ein weibliches Kleidungsstück tragen konnte. Obwohl sich eigentlich nicht viel änderte, gab es doch viele erste Male: der erste selbstgekaufte BH, ein erstes selbstgenähtes (!) Kleid, der erste selbstgekaufte Rock.

Was sich nicht änderte, war die Gewissheit, mit dieser komischen Neigung immer allein sein zu müssen. Schnell verschwand Hoffnung, spätestens die Liebe meines Lebens werde mich kurieren und ich danach ein ganz normaler Mann sein. Später habe ich dann bloß noch gehofft, die Liebe meines Lebens werde mich nicht bei „seltsamem Tun“ erwischen und deswegen verlassen. Dementsprechend habe ich meine Bestände an „Zubehör“ für meine weibliche Seite auch immer sehr klein gehalten, damit sie noch gut zu verstecken waren. Es wurde zwar doch immer noch ein bisschen mehr, aber ich blieb unentdeckt, auch wenn es manchmal knapp war. Und weil ich keine Alternative sah, versuchte ich mich mit dem was ich hatte zu arrangieren.

Ich war nicht glücklich damit, aber wer ist schon glücklich? Ich baute mir jede Menge Schutzwälle. Sie bestanden aus Angstszenarien („Wenn das jemand erfährt bist du beruflich und sozial erledigt. Du bist dann dazu verdammt, vereinsamt im gesellschaftlichen Abseits zu vege­tieren.“), Selbstmanipulation („Du kannst das gar nicht, deshalb ist es auch nicht vernünftig es zu wollen.“ Oder etwas härter „Du machst dich zu einer Witzfigur!“) und Praktikabilitätserwägungen („In deiner Größe gibt es keine Frauenschuhe.“) Und so verging eine Menge Zeit in der ich unter meiner Neigung eine Menge litt und sie nur wenig genoss, ich unzufrieden war und immer zynischer wurde.

Impulse

Doch dann, es ist erst ein paar Jahre her, kam Bewegung in die Sache und mein Leben veränderte sich. Es waren zwei Auslöser, die den Stein ins Rollen brachten. 

Ursache 1: Meine Frau hatte (trotz aller Vorsicht) weibliche Sachen von mir gefunden. Dessous! Da war sie, die Krise vor der ich mich immer gefürchtet hatte. Es war nicht die große Katastrophe, vor der ich solche Angst hatte, aber es war auch keine Befreiung, da meine Liebste meiner Neigung eher distanziert, keinesfalls aber begeistert gegenüberstand. Aber der erste Riss war in meinem Schutzwall, der erste Mensch außer mir selbst wusste nun etwas (wenn auch nicht alles) von meiner zweiten Seite.

Ursache 2: Das Internet. Schon früh hatte ich in den Computern eine Chance für meine weibliche Seite gesehen, doch zunächst war das alles nicht so das Wahre. Ich fand es zwar toll, dass man in PC-Spielen die Rollen weiblicher Charaktere übernehmen konnte, doch das was mir fehlte, bekam ich auf diese Weise nicht. Und plötzlich gab es das WWW und damit die Möglichkeit, anonym und mit geringem Risiko Kontakte mit anderen zu schließen, die so sind wie ich. Dem Internet verdanke ich die triviale aber für mich so unendlich wichtige Erkenntnis: Ich muss nicht allein sein! Und dann folgte die weitere Erkenntnis: andere überwinden Scham und Angst und gehen nach draußen!

Beides gemeinsam, der Kontakt zu Gleichgesinnten und die langsam wachsende Toleranz meiner Frau ermöglichten mir, nach so langer Zeit nun die Träume zu leben, die mir schon im Alter von 9 Jahren rote Ohren verschafften und bis dahin Unvorstellbares wurde für mich Realität. Und je mehr diese Realität Teil meines Lebens ist, um so mehr kann ich meinen Frieden schließen mit meinen Träumen. 

Wo bin ich nun?

„Eigentlich“ bin ich immer noch ein Mann. Der Mann ist das, was die meisten Menschen die meiste Zeit von mir sehen. Aber ab und an trage ich weibliche Kleidung, Make-Up und Perücke und verhalte mich wie eine Frau. Ich unternehme etwas in der Öffentlichkeit, allein oder zusammen mit einer Freundin.

Zum Beispiel bin ich ab und zu tagsüber in den Einkaufsstraßen einer Großstadt, na ja, also in einer Stadt, die eine Fußgängerzone und schöne Geschäfte hat. Manche Passanten mögen mich zwar anschauen, weil ich für eine Frau ungewöhnlich groß bin, doch niemand reagiert ablehnend auf mich. Es nimmt auch niemand besonders Notiz von mir. Ebenso ist es, wenn ich mal abends mit einer Freundin ins Kino oder auch auf ein paar Cocktails weggehe.

Der ganze Aufwand, nur um Dinge zu machen, die ich auch als Mann machen könnte?

Wo liegt der Unterschied zu meinem Alltag als Mann? Es ist erstaunlicherweise gar nicht so viel, wie man zuerst vermuten würde. 

Fühle ich mich anders? Zunächst mal ist da die Kleidung, die für mich nicht alltäglich ist. Anfangs spüre ich das relativ stark, doch je mehr ich meine Aufmerksamkeit auf meine Umwelt richte, um so weniger „bemerkenswert“ ist für mich auch meine Kleidung. Vielleicht lenkt irgendwann ein rutschender Träger meine Aufmerksamkeit darauf, dass ich ein Spaghettitop trage und kein T-Shirt, aber das ist es dann auch schon. Es ist dann eben so wie es ist, bequem oder unbequem, aber nicht irgendwie besonders.

Werde ich anders behandelt? Soweit ich nicht erkannt werde oder es den Leuten einfach nicht wichtig ist, was ich bin, besteht die „weibliche“ Behandlung darin, dass ich eben normal behandelt werde. Eine Frau, die einen Rock kauft, wird nicht anders behandelt, als ein Mann, der ein Hemd kauft. Schön ist nur, dass ich ganz normal und ohne schräge Blicke den Rock anprobieren und vielleicht auch kaufen kann. Als Frau angesprochen und behandelt zu werden bedeutet also insofern wieder, neutral und geschlechtsunspezifisch behandelt zu werden. Was wäre für eine (andere) Frau in diesen Situationen anders gewesen? Wohl nichts. 

Ich kann ich sein

Und doch nehme ich etwas besonderes mit aus diesen Erlebnissen, die Alltäglichkeiten wären, wenn ich sie als Mann hätte. Ich kann so sein, wie ich mich mag, ohne dass es jemanden stört oder ich dafür sozial sanktioniert werde. Ich genieße meine Unauffälligkeit und die Akzeptanz, die daraus für mich erwächst. Ich kann, was Frauen können, auch machen: Kleider anprobieren, Parfüms testen und in Rock oder Kleid in einem Cafe sitzen und die anderen Leute beobachten. Die Frau in mir kann am „richtigen Leben“ teilhaben.

Aber auch der Mann in mir profitiert. Ich habe viel „weibliches“ in meinen Männeralltag integriert. Das betrifft auch Kleidung, doch viel wichtiger ist anderes.
Ich achte mehr auf meine Körperhaltung, denn Frauen gehen aufrecht. Meine Körperpflegegewohnheiten haben sich geändert. So bin ich mittlerweile z.B. nach anfänglicher Skepsis überzeugter Nutzer von Bodylotions und Gesichtscremes. Auch das machen Männer eigentlich nicht: Ich rede über meine Gefühle und spreche andere Menschen auf ihre Gefühle an. Ich rede über das, was mich interessiert, ohne mich zu zensieren, ob ein Thema wirklich noch für einen Mann okay ist. Und ich stelle fest, dass die Menschen darauf reagieren, obwohl sie „nur“ den Mann kennen und sehen. Frauen reden mit mir, wie mit einer anderen Frau. Ich erfahre, wo und wie meine Nachbarin ihr „Kleines Schwarzes“ gekauft hat und das interessiert mich. Die Leute finden mich netter. Doch vielleicht liegt das bloß daran, dass der Mann entspannter ist, seit die Frau in ihm zufriedener ist.

Nie genug?

Und jetzt komme ich auf Herrn Wecker zurück, den ich anfangs zitiert habe. Mag sein, dass ich nie genug kriege (…und das macht Spaß und ist auch gut so!), doch es muss nicht immer mehr und extremer sein! Lange Zeit hatte ich die Angst, dass hinter jedem erfüllten Wunsch ein noch größerer Wunsch auftauchen wird und ich schließlich an einen Punkt gelangen würde, an dem es mir unmöglich wäre, mein Leben als Mann weiter zu führen und ich körperlich und sozial endgültig das Geschlecht wechseln müsse.

Vielleicht kommt das wirklich noch auf mich zu, doch das halte ich momentan nicht für wahrscheinlich. Es scheint viel mehr so, als müsse ich in bestimmtem Umfang „Frau sein“ um mir meiner selbst sicher und ausgeglichen zu sein, doch es verfliegt der Reiz der puren Kleidung ebenso wie die Illusion im Frausein, sei ein Glück verborgen, das mir anderweitig nicht zugänglich wäre. Ich muss nicht mehr jeder Frau, die schöne Sachen trägt, neidisch hinterherstarren und mich fragen, wie es wohl wäre, so ein schönes Kleid anzuhaben.

Ich weiß zwar immer noch nicht, wie es wäre, eine „richtige“ Frau zu sein, aber ich weiß, dass ich allein deshalb nicht glücklich wäre. Und ich weiß jetzt z.B. auch, warum Frauen nicht dauernd in Röcken und Nylonstrümpfen rumlaufen, um das tolle Gefühl zu genießen. Weil es nämlich gar kein besonders tolles Gefühl ist, wenn es einfach normal ist! Nur das Besondere ist toll! Normales ist bloß normal.

Gut, ich finde nach wie vor, dass es Kleidung gibt, die angenehmer ist als andere. Dünne Strümpfe sind angenehmer zu tragen als dicke, bei Hitze sind leichte Minikleider oder Tops mit Spaghettiträgern wesentlich angenehmer als Baumwollhosen und T-Shirts, aber hochhackige Schuhe sind definitiv viel weniger sexy, wenn man erst mal vier Stunden darin rumgelaufen ist. Es ist schön, die Seiten und damit auch die Perspektiven wechseln zu können, es ist toll eine „beste Freundin“ zu haben und die weibliche Seite der Welt zu genießen, doch es ist auch schön, ganz einfach ich selbst sein zu können, ohne Schminke und Hilfsmittel und die Gefahr, mich für mein Anderssein rechtfertigen zu müssen. 

Mittlerweile habe ich sehr viel Weiblichkeit in meinen männlichen Alltag integriert (komischerweise fällt das niemandem auf) und es wird wohl auch noch etwas mehr werden, aber ich weiß nun auch, dass das, was ab und zu schön ist, nicht das pure Glück für mich wäre, wenn ich es dauernd hätte. 

Trotz oder vielleicht auch wegen aller Veränderungen weiß ich immer noch nicht, wo das alles enden wird. Aber ist das wichtig? Ist nicht viel wichtiger, immer so zu sein, wie es für diesen Moment richtig ist? Und jetzt kann ich so sein, wie ich jetzt sein mag. 

Ich weiß jetzt, dass es keine Garantie gibt, dass man glücklich wird, wenn man seine Wünsche lebt, doch man bleibt sicher unglücklich, wenn man es nicht tut.

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© Jula 2003

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