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Bescheidene Utopie oder unverschämte Zumutung?

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Das Anliegen nach einer Veränderung der Sicht auf und der Sprache über Geschlecht und Gender ist kein Kleinkram, es ist eine Revolution!
Wir brauchen eine „kopernikanische Wende“ beim Denken über Geschlecht und Gender.

In letzter Zeit wird so viel wie nie zuvor über Transidentität, Intersexualität und Gender berichtet. Jede Woche gibt es Artikel zu der Thematik. Der Bundestag beschließt die Ehe für Alle und das BVerfG verlangt, dass der Staat mehr als nur Mann oder Frau im Personenstandsrecht anerkennen muss. Ich denke: es geht voran! Unser Staat verändert sich zum Positiven. Gleichzeitig gibt es ein Erstarken populistischer Positionen insbesondere im Hinblick auf Gender-Themen. Was ist da los?

Vor einiger Zeit bin ich über dieses Zitat gestolpert:
Bei alledem geht es notabene um die bescheidene Utopie, dass man Menschen in dem Geschlecht leben lassen möge, das sie selbst als ihrer Seele angemessen empfinden. Bereits dieses Ansinnen jedoch scheint am Grundkonsens aller derzeit herrschenden Gesellschaftsordnungen zu rühren.“
(Jackie Baier, Regisseurin, http://julia-der-film.de/directors-statement/)

Ja, es ist – sollte man glauben – ein bescheidener Wunsch, dass jeder Mensch Anerkennung und Lebensmöglichkeiten in dem Geschlecht findet, das er für sich als angemessen empfindet. Und wenn es gar keines ist, dann sollte es ebenso gut sein.

Doch so ist es eben nicht. Leider ist es vielmehr so, dass es jedes Mal einen riesigen Aufstand gibt, wenn es jemand wagt, auch nur die schlichte biologische Tatsache zu äußern, dass es nun einmal keine strikt getrennten Geschlechter gibt, denen sich alle Menschen eindeutig zuordnen lassen.

Das reicht in vielen Kontexten schon, damit man des Wahnsinns oder der Verblendung bezichtigt werden kann. Geht man noch einen Schritt weiter und verlangt, dass nicht nur die Tatsache anerkannt, sondern aus ihr auch gesellschaftliche Konsequenzen gezogen werden müssen, wird das Anliegen zur Zumutung.

Wie kritisch das ist, merkt man immer, wenn in Zeitschriften über Änderungen am Geschlecht oder über das Gendermodell berichtet wird. Als das Bundesverfassungsgericht seine Entscheidung über das dritte Geschlecht als Eintragungsmöglichkeit in das Personenstandsregister (siehe 1 BvR 2019/16 bzw. meinen Artikel dazu) getroffen hat, schlugen die Wogen hoch. Jedes Mal, wenn so etwas passiert und ich die Kommentarspalten lese, bin ich betroffen. Alles, was mich jubeln lässt, weil es mir als gesellschaftlicher Fortschritt erscheint, wird dort als Untergang nicht bloß des Abendlandes, sondern sogar des gesunden Menschenverstandes bejammert. Da ist so viel Ablehnung und Ignoranz bis hin zu unverhohlenem Hass.

Woher kommt der? Eigentlich sollte man doch meinen, dass den meisten Menschen, weil nicht betroffen, das Thema egal sein könnte. Sie verlieren doch nichts, wenn andere Menschen ein wenig mehr Akzeptanz zugesprochen wird.

Was denken wir über Geschlecht?

Die Eckpunkte des Modells lassen sich leicht erkennen, wenn man sich in die Situation versetzt, dass ein Baby geboren wird. Sobald sein Körper hinreichend weit den Körper der Mutter verlassen hat, wird aus dem „es“ ein „er“ oder eine „sie“.

Wir haben die selbstverständliche Erwartung, dass jedes Neugeborene eindeutig die Genitalien eines von genau zwei Geschlechtern hat. Aufgrund der äußerlich sichtbaren Genitalien weisen wir dem Kind eines der beiden Geschlechter zu und richten im Folgenden auch unsere Erwartungen daran aus.

Weder haben wir Zweifel, dass das Kind „wirklich“ das Geschlecht hat, nach dem das Genital aussieht, noch ziehen wir in Betracht, dass das Kind es irgendwann mal anders sehen wird oder dass an der Eindeutigkeit irgendetwas falsch sein könnte.

Was ist daran falsch?

Das Modell verleugnet die vorhandene biologische Vielfalt. Wir nehmen eine strikte Zweiteilung wahr, wo es biologisch Vielfalt gibt.

Tatsächlich ist es bei Geschlecht und Gender ziemlich offenkundig, dass die Realität nicht so schlicht sein kann, wie es das Modell behauptet. Es gibt und gab schon immer Transgender und Intersexuelle. Dass das Modell gelinde gesagt sehr vereinfachend ist, ist sehr viel offensichtlicher als der Mechanismus hinter der Entstehung der Arten oder das Raum-Zeit-Kontinuum. Trotzdem erweist sich das Modell als extrem widerstandsfähig gegen Veränderungen auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse.

Wir nehmen Gender gar nicht als etwas eigenständiges wahr, sondern nur als so etwas wie den Schatten der Biologie. Wenn überhaupt!
Wir glauben, das Geschlecht einer Person richtet sich nach den Genitalien. Dabei ist es umgekehrt: die Genitalien richten sich nach dem biologischen Geschlecht. Meistens, aber bei weitem nicht immer.

Was sich nach den Genitalien richtet ist das Gender. Weil nämlich die Genitalien der Anknüpfungspunkt für die Genderzuweisung sind.

Und überhaupt: Gender! Für die meisten Menschen ist Gender nur ein anderes Wort für Geschlecht. Es wird gar nicht als etwas Eigenständiges wahrgenommen, sondern ist so etwas wie ein Schatten der Biologie.

Kurz gesagt, besteht das Problem darin, dass Geschlecht auf den Körper bzw. eigentlich nur den äußeren Anschein reduziert wird.

Die Vielfalt unter der Oberfläche wird nicht wahrgenommen. Hormone, Genetik und Psyche (und mit ihr die Identität) haben sich dem Aussehen unterzuordnen bzw. werden gar nicht erst bemerkt.

In der Folge hat jede Person so zu sein, wie ihr Körper es anderen erscheinen lässt. Das hat große Ähnlichkeit mit den alten Theorien von den „Verbrecherphysiognomien“ oder Trickfilmen für Kinder, wo die Guten schön und die Bösen hässlich sind.

Karte und Gebiet

Das Problem ist nicht das vereinfachende Modell selbst. Für eine erste Einschätzung von Personen und Situationen ist es prima geeignet. Das Problem ist, dass es nicht als vereinfachendes Modell verstanden wird, sondern als die Wirklichkeit selbst.

Wenn die Menschen sich bewusstmachen würden, dass es sich nur um ein vereinfachtes Modell handelt und nicht um die komplexere Wirklichkeit, könnten Verschiedenartigkeiten problemlos hingenommen werden. Doch das ist sehr weitgehend nicht der Fall.

Die Menschen halten das Modell für die Landschaft, während es tatsächlich bloß eine Karte ist. Die Karte in diesem Bild ist das Modell von Gender, das jede Person eindeutig einem von zwei biologischen Geschlechtern zuordnet. In diesem Modell hat jede Person ein eindeutiges Genital, das mit der Genetik übereinstimmt und eine dazu passende Identität. So sollte es sein. Doch nur in der Theorie stimmen Theorie und Praxis überein! Die Wirklichkeit ist komplizierter. So wie jede Landschaft vielfältiger ist als die Karte, die sie beschreibt.

Vereinfachende Karten sind gut. Sie fokussieren auf das Wesentliche und geben Orientierung. Trotzdem käme wohl niemand, der eine Landkarte benutzt auf die Idee, die Landschaft würde sich komplett nach der Karte richten. Manchmal wünscht man sich das zwar, doch letztlich akzeptiert man die Wirklichkeit.

Nur bei Geschlecht und Gender ist das bei vielen Menschen noch anders. Sie glauben, dass sie biologische Realität sich nach dem Modell zu richten hat. Sie sind nicht bereit, die Vielfalt zu akzeptieren.

Es braucht eine Kopernikanische Wende

Die Forderung nach einer veränderten Sicht auf Geschlecht und Gender hat die Dimension einer „kopernikanischen Wende“

Das Anliegen nach einer Veränderung der Sicht auf und der Sprache über Geschlecht und Gender ist kein Kleinkram, es ist eine Revolution! Das Weltbild vieler Menschen muss sich drastisch ändern.

Wenn sich die Weltsicht der Menschen aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse ändert, dann spricht man in gravierenden Fällen von einer „kopernikanischen Wende“.

Es ist extrem schwierig Menschen zu vermitteln, dass die Realität nicht so ist, wie man sie wahrnimmt. Denn in diesen Fällen gerät die inhaltliche Aussage in Konflikt mit dem „gesunden Menschenverstand“.

Die Welt ist nicht so, wie sie vom Alltagsverstand wahrgenommen wird:
•  Die Erde wirkt flach, weil die Kugel so riesig groß ist.
•  Die Erde dreht sich, obwohl es so aussieht, als würde die Sonne sich bewegen.
•  Die Evolution arbeitet in so großen Zeiträumen, dass sie mit menschlichem Zeitgefühl nicht wahrnehmbar ist
•  Die Annahmen der Relativitätstheorie und der Quantentheorie entziehen sich sehr weitgehend der menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit. Teils sträubt sich auch der Verstand, dass etwas, also das Licht, gleichzeitig Welle oder Teilchen sein kann, je nachdem wie es beobachtet wird.

Alle diese weltverändernden Sichtweisen haben sich durchgesetzt. Alle zitierten „Wenden“ hatten als Gemeinsamkeit, dass mehrheitlich akzeptiert wurde, dass die Welt in Wirklichkeit anders ist, als es die naive Betrachtung nahelegt. Zugegeben, es hat meist ziemlich lange gedauert, bis sich die wissenschaftlichen Argumente durchsetzten: Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte.

Wo liegt die Schwierigkeit beim Gendermodell?

Während wir im Allgemeinen durchaus wissen und akzeptieren, dass das was wir sehen nicht unbedingt die Realität bzw die Wahrheit ist, klammern wir uns beim Geschlecht auf Basis des Gendermodells genau daran. Wir akzeptieren nicht, dass die Wahrheit der Person nicht erkennbar ist.

Ein weiterer Aspekt ist, dass die genannten Revolutionen im Weltbild für das alltägliche Leben weitgehend egal sind. Das ist bei Geschlecht und Gender anders. Gender ist eine grundlegende Kategorisierung. Die Geschlechter und wie wir über sie denken strukturieren jedoch unser tägliches Leben. Wie reden wir eine Person an? Wie sprechen wir von ihr? Wie kategorisieren wir sie? Das sind fundamentale Fragen. Eine Veränderung des Verständnisses von Geschlecht und Gender, würde viele Menschen zwingen, ihr alltägliches Handeln zu überdenken.

Üblicherweise richtet sich ein Modell nach der Wirklichkeit. Aber beim Gendermodell ist es auch umgekehrt: Es formt die Wirklichkeit. Das Denken in zwei eindeutig getrennten Geschlechtern hat sich so tief in unsere Sprache eingeschrieben, dass wir nicht einmal anders als in diesen Kategorien denken können.

Gibt es auch gute Nachrichten für uns?
Ja! Eine gute Nachricht ist, dass die heftige Verteidigung des Systems sich auf eben dieses bezieht und nur eingeschränkt auf uns. Auf der persönlich-individuellen Ebene gibt es durchaus die Bereitschaft uns mit dem Gender zu akzeptieren, das wir für uns reklamieren. Selbst wenn wir uns irgendwie anders, außerhalb des Systems positionieren, wird das hingenommen. Nicht zwangsläufig und auf jeden Fall, aber es gibt doch eine überwiegende Wahrscheinlichkeit.

Das Modell hat bereits Risse

Mit transgeschlechtlichen Biographien ist die Ordnung des „biologischen Geschlechts“ schon angegriffen worden. In unserer Welt ist die Biologie nicht mehr Schicksal, sondern veränderbar. Grenzen werden nur durch den Stand des Könnens in der Medizin gesetzt. Wir Menschen sind in großem Umfang die Herr*innen über unserere äußere Erscheinung. Es ist lediglich eine graduelle Unterscheidung, welcher Eingriff noch optimiert oder schon kategoriell verändert.

Gerade die Festlegung auf die Bedeutung der Äußerlichkeiten, speziell der Genitalien, für die Zuordnung zu einem Geschlecht sorgt dafür, dass Kategoriewechsel möglich sind. Tatsächlich ist der äußere Anschein, auch unabhängig von den Genitalien (wann sieht man die schon?) allein relevant für die Genderzuweisung.

Das gesellschaftliche Beharren auf der entscheidenden Bedeutung des Äußerlichen sorgt dafür, dass sich das Modell selbst ad absurdum führt. Die Natur mit ihren vielfältigen Aspekten spielt nämlich keine Rolle mehr, wenn die entsprechende Person nur hinreichend modellkonform aussieht.

Der daraus entstehende Widerspruch, dass ein System einerseits für unangreifbar wahr gehalten wird und man sich andererseits im Einzelfall so verhält, als sei es falsch, wird von den so agierenden Personen ausgehalten bzw so erfolgreich verdrängt, dass er nicht ins Bewusstsein dringt.

Schlussfolgerung

Nüchtern betrachtet gibt es nur zwei Möglichkeiten:

Entweder das Modell behauptet sich so wie es ist mit der Macht des „Gesunden Menschenverstandes“ gegen die wissenschaftliche Erkenntnis. Dann bleiben insbesondere die Transgender und Intersexuellen ständig als nervige Belege, dass am Modell etwas nicht stimmt. Weil das aber nicht sein darf, müssen sich die abweichenden Personen entweder ändern oder zumindest so gut es nur irgend geht, am besten bis zu vollständigen Unsichtbarkeit anpassen. Viele von uns leisten bisher diese Anpassungsarbeit gerne und sogar unter Vernachlässigung der eigenen Gesundheit.

Leider bleiben immer noch ein paar übrig, denen auch bei größtem Bemühen ihre Thematik immer noch anzusehen sein wird. Ob diese als Kranke (wie früher und eigentlich immer noch bei uns), als Kriminelle (früher bei uns, immer noch in anderen Staaten) oder bloß als Spinner abgetan werden, ist lediglich ein gradueller Unterschied. Wir würden dann doch etwas „Besonderes“ (um nicht von Anormalität zu sprechen) bleiben und müssten mit den zwangsläufigen Folgen leben, die es nun mal hat, nicht glatt in das Raster der Normalität zu passen.

Oder es gelingt die „kopernikanische Wende“ bei Geschlecht und Gender und die Gesellschaft passt ihr Modell in wesentlichen Punkten der wissenschaftlichen Erkenntnis an. Dann würde in der Breite akzeptiert werden, dass die zwei Geschlechter eher ein Kontinuum als Kategorien sind und abweichende Ausprägungen ganz normal sind. Zudem würde die Erwartung, dass jede Person ein eindeutiges Gender darstellt und dieses immer mit den Genitalien konform geht, ihre Selbstverständlichkeit verlieren. In einer solchen Gesellschaft gäbe es vermutlich keine Anlässe mehr für Diskriminierungen und Phobien gegenüber Homosexuellen, Transgendern und Intersexuellen, denn sie wären ganz normaler Teil der natürlichen Vielfalt.

Querverbindungen

© Jula Böge 2018

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