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Theorien zur Entstehung von Geschlechtsidentität

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Habe ich etwas falsch gemacht oder bin ich eine weibliche Seele in einem männlichen Körper?

Wieso aus Mädchen Frauen werden – und aus Jungen manchmal auch! Eine Auseinandersetzung mit Theorien zur Entstehung von geschlechtsspezifischem Verhalten und dem Auseinanderfallen von Körper und Geschlechtsidentität.

Warum verhalten sich Männer und Frauen unterschiedlich? Über die körperlichen Unterschiede zwischen Männern und Frauen hinaus gibt es Verhaltensunterschiede. Woher kommen die?
Sind geschlechtsbezogenes Verhalten und geschlechtsbezogene Vorlieben anerzogen oder angeboren?

Diese Fragen werden immer dann heftig diskutiert, wenn es um die Gleichstellung der Frauen oder auch Aspekte des Gender Mainstreaming geht.

Menschen wie ich interessieren sich aus nachvollziehbaren Gründen für dieses Thema!

Theorien dazu gibt es aus verschiedenen Wissenschaften: 

Der folgende Text basiert sehr stark auf dem Aufsatz http://www.ifb.bayern.de/imperia/md/content/stmas/ifb/materialien/mat_1995_4.pdf
sowie
www.freundschaft-diplomarbeiten.de/2.4-Theorien-der-Entstehung-von-Geschlechtsunterschieden.htm 

Um das Ergebnis gleich vorweg zu nehmen: die meisten transidenten Menschen werden bei einigen Ausführungen aus dem Kopfschütteln gar nicht mehr herauskommen. Wenn die geschilderten Entstehungsmechanismen für Männlichkeit und Weiblichkeit, und ein entsprechendes Selbstverständnis und Verhalten tatsächlich uneingeschränkt richtig wären, dann dürfte es Menschen wie mich, transidente Menschen im Allgemeinen gar nicht geben.

Biologie

Die biologische Forschungsrichtung geht davon aus, dass Unterschiede zwischen den Geschlechtern letztendlich genetisch bedingt sind.

Die biologischen Mechanismen, die für die körperlichen Unterschiede verantwortlich sind, haben auch eine Bedeutung für psychische Phänomene, wie das Verhalten der Menschen. Einen besonderen Einfluss auf geschlechtsspezifisches Verhalten haben Chromosomen, Keimdrüsen und Hormone.

Das 23. Chromosomenpaar bestimmt das physische Geschlecht, d.h., ob man eine Frau oder ein Mann wird. Bis zur 6. Schwangerschaftswoche sehen Embryonen gleich aus, danach erfolgt die Differenzierung der Keimdrüsen. Dadurch entstehen die inneren und äußeren Geschlechtsorgane. Bei XX-Personen entwickeln sich Eierstöcke, bei XY-Personenen sind es die Hoden. Zumindest in den allermeisten Fällen. Hormone lösen dann die weitere Ausbildung der männlichen und weiblichen Sexualorgane aus. Hormone beeinflussen die Ausbildung der Sexualorganesowie die Differenzierung unterschiedlicher Teile des Zentralnervensystems, die geschlechtsspezifisches Verhalten steuern.

Dass die ganze Sache nicht so einfach ist, wie das gerade dargestellt wurde, ergibt sich schon daraus, dass es viele Formen der Intersexualität gibt. Chromosomen, Keimdrüsen, Hormonstatus, Aussehen all diese Dinge laufen in der Realität nicht immer so schön parallel, wie sich das die Theorie ausmalt. Eines von ca. Tausend Kindern ist intersexuell.

Selbst bei Menschen wie mir, die nicht intersexuell sind, sondern körperlich eindeutig männlich, gibt es, wie ich an mir selbst spüre, Abweichungen. Zumindest meine Identität, wenn auch vielleicht nichts körperlich Nachweisbares unterscheidet sich deutlich von üblichem, männlichem Selbstverständnis. Eventuell ist diese Abweichung sogar durch irgendwelche körperlich nachweisbaren Unterschiede zu „normalen“ Individuen begründet, aber genau dieser Nachweis konnte bis jetzt nicht gefunden werden.

Soziologie

Die Soziologie unterscheidet zwischen Sex und Gender. Gender bezeichnet alles, was in einer Kultur als typisch für ein bestimmtes Geschlecht angesehen wird. Es verweist aber nicht zwingend auf die körperlichen Geschlechtsmerkmale. Der kausale Zusammenhang zwischen biologischem und sozialem Geschlecht wird nicht als zwingend angesehen. Vielmehr ist das soziale Geschlecht ein Konstrukt. In den Theorieansätzen gibt es zwei Hauptrichtungen:

Der soziale Kontruktivismus legt das Augenmerk auf das „doing gender“, d.h. auf die Herstellung des sozialenGeschlechts in Interaktionen und sozialen Prozessen. Gender wird in permanenten Zuschreibungs-, Wahrnehmungs- und Darstellungsroutinen reproduziert, die sich lebensgeschichtlich verfestigen und identitätswirksam sind.

Der Dekonstruktivismus hinterfragt die Bedeutsamkeit und damit auch die Faktizität eines biologischen Geschlechts. Das Geschlecht (sex und gender) wird als diskursive Konstruktion verstanden, die nicht auf einem biologischen Gegebenen beruht, sondern permanent performativ hergestellt wird.

Die Geschlechtsrollenübernahme des Kindes wird überwiegend mit der strukturell-funktionalen Systemtheorie von Parsons und Bales erklärt.

Parsons hat versucht, die Übernahme von Geschlechtsrollen aus der Perspektive der Funktionen für ein System zu erklären.
Das Kind lernt seine eigene Rolle kennen, indem es am Rollensystem der Familie teilnimmt.

In der ersten Phase nach der Geburt erlebt das Kind eine enge Symbiose mit der Mutter, da sie physiologische Bedürfnisse des Kindes befriedigt.

In dieser Zeit spielen geschlechtsspezifische Unterschiede noch keine Rolle. Autonomieäußerungen des Kindes werden aber schon je nach Geschlecht unterschiedlich beurteilt und verstärkt.

Sobald das Kind sein eigenes Geschlecht erkennt, muss es auch die kulturellen Ausformungen des Frau- und Mannseins kennen lernen. Zuerst haben Kinder beiden Geschlechts eine gleich intensive Beziehung zur Mutter. Dann wendet sich der Junge von der Mutter ab, um sich mit dem Vater zu identifizieren. Während sich das Mädchen stärker mit der Mutter identifiziert. In der Folge lernt das Kind die mehr expressive Funktion der Mutter und die mehr instrumentelle Funktion des Vaters. Somit sieht das Kind die elterliche Autorität aufgeteilt und verinnerlicht die Grundrollen der Familie. Instrumentalität und Expressivität kennzeichnen Handlungstendenzen, die das Verhalten von Männern und Frauen steuern können. Mit dieser Erkenntnis beginnt das Kind seine eigene Geschlechtsrolle zu erlernen.

Psychologie

Die Psychologen haben sich hauptsächlich damit beschäftigt, wie Jungen und Mädchen erzogen werden. Das Interesse liegt dabei auf Kindheit und Rolle der Eltern bei der Geschlechtsrollenentwicklung.

Die Bekräftigungstheorie besagt, dass Jungen und Mädchen schon sehr früh, wahrscheinlich im Kleinkindalter schon, für Verhalten, dass ihrem Geschlecht angemessen erscheint, bekräftigt werden. Bekräftigung erfolgt durch Lob, Anerkennung, Belohnung o. ä. Dem Geschlecht unangemessene Verhaltensweisen werden hingegen nicht bekräftigt, sondern sogar bestraft, missbilligt oder einfach ignoriert. Die Bekräftigungstheorie basiert darauf, dass bestimmte dem Geschlecht entsprechende Verhaltensstereotype existieren und Eltern ihre Kinder diesen Stereotypen gemäß erziehen.

Dagegen spricht, dass hinsichtlich der Eltern – Kind – Interaktion, die Wärme der Eltern, das Ausmaß an Lob und positiver Rückmeldung, in den ersten vier bis fünf Lebensjahren kaum Unterschiede bezüglich des Geschlechts nachzuweisen sind.

Die Imitationstheorie behauptet, dass Kinder geschlechtstypisches Verhalten durch die Beobachtung gleichgeschlechtlicher Modelle und die Nachahmung und Übernahme deren geschlechtsangemessenen Verhaltens erwerben. Dabei gelten also die Bezugspersonen als Vorbilder, im Hinblick auf erfolgreiches oder erfolgloses Verhalten. Erfolgreich und erfolglos ist hier im Sinne von bestrafen oder nicht bestrafen gemeint. Nachgeahmt wird vorwiegend erfolgreiches Modellverhalten, meist am gleichgeschlechtlichen Vorbild.

Kritikpunkte dieser Theorie liegen u.a. darin, dass Jungen und Mädchen in unserem Kulturkreis heutzutage in der frühen Kindheit meistens von weiblichen Bezugspersonen betreut werden. Trotzdem imitieren Jungen nicht nur weibliches Verhalten, was ja nach der Imitationstheorie der Fall sein müsste. Außerdem haben Jungen und Mädchen in der späteren Kindheit und Jugend in annähernd gleicher Weise die Gelegenheit, gleich- und gegengeschlechtliches Modellverhalten zu beobachten. Warum sie sich trotzdem vom anderen Geschlecht abgrenzen und ihrem Geschlecht angemessenes Verhalten oft übernehmen, kann die Imitationstheorie nicht erklären.

In der Identifikationstheorie wird angenommen, dass durch die sogenannten Primärbeziehungen geschlechtsspezifisches Verhalten gefördert bzw. erlernt wird. Mit Primärbeziehungen sind die Beziehungen der Kinder zu den wichtigsten Bezugspersonen gemeint, mit denen sich in den ersten Lebensjahren häufig eine intensive gefühlsmäßige Beziehung und Bindung entwickelt. Durch diese Bindung ist die Grundlage und der Anlass gegeben, dass das Kind sich mit der Person identifiziert.

Es wird angenommen, dass Mädchen sich mit der Mutter und Jungen sich mit dem Vater identifizieren. D.h., dass Jungen und Mädchen sich innerlich mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil als sehr ähnlich oder identisch erleben. Dieses Gefühl der Ähnlichkeit bewegen dann Jungen und Mädchen innere Einstellungen, Werthaltungen und äußere Verhaltensweisen zu übernehmen.

In der Kognitiven Theorie entwickelt das Kind ab dem dritten Lebensjahr ein Verständnis dafür, welchem Geschlecht es angehört. Es weiß dann zwar, dass es ein Junge bzw. ein Mädchen ist. Es ist sich aber noch nicht sicher, ob diese Zugehörigkeit zum Geschlecht dauerhaft und endgültig ist.

Ungefähr ein Jahr später kommt es zu einer vorläufigen Festigung der Geschlechtsidentität.

Zwischen dem sechsten und achten Lebensjahr erfolgt dann laut Kohlberg die sogenannte Herausbildung der Invarianz der eigenen Geschlechtszugehörigkeit. Das heißt, dass nun das Geschlecht zu einem unveränderbaren Merkmal geworden ist, dass konstant bleibt.

Kohlbergs Annahme ist, dass die Kinder, die die Unveränderbarkeit ihrer Geschlechtszugehörigkeit erkannt haben, daran interessiert sind, sich ihrem Geschlecht entsprechend zu verhalten. Damit wollen sie sich und den anderen ihre Geschlechtszugehörigkeit immer wieder bestätigen. Das erreichen sie durch Identifizierung mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil, indem sie ihre Wertvorstellungen übernehmen, oder durch Nachahmung und Imitation gleichgeschlechtlicher Modelle.

Die geistig-verstandesmäßige Selbsteinordnung als männlich oder weiblich ist die Grundvoraussetzung für die Ausbildung von Geschlechtsunterschieden und den Aufbau der Geschlechtsrolle. Vorgänge der Bekräftigung, Imitation oder Identifikation spielen erst dann eine Rolle, wenn sich die Geschlechtsidentität gebildet hat. Wenn das Kind also ein Verständnis für seine dauerhafte und konstante Geschlechtszugehörigkeit aufbringen kann.

Kritik

Wenn ich die üblichen Theorien vereinfachend zusammenfasse, dann passiert folgendes: Ein Kind wird mit einem bestimmten Körper geboren. Dementsprechend wird es von seiner Umwelt behandelt und erkennt sich selbst als Junge oder Mädchen anhand seiner körperlichen Merkmale.

Es ist meiner Meinung nach überzogen, wenn man – wie einige feministisch geprägte Forscherinnen – die Geschlechtsrolle (Gender) komplett von den körperlichen Gegebenheiten abstrahiert. Unsere Geschlechtsrolle wird nun mal stark von den Erwartungen geprägt, die unsere Umwelt an uns richtet. Und diese Erwartungen wiederum orientieren sich nicht an unserer inneren Einstellung, sondern primär an unserer äußeren Erscheinung.

Sieht man von den bereits erwähnten Intersexuellen ab, bei denen die Lage etwas komplizierter ist, läuft es nun im Allgemeinen locker durch. Jungen werden als Jungen gesehen und behandelt, Mädchen werden als Mädchen gesehehn und behandelt. Jungen erkennen sich als Jungen und lerrnen die Jungenrolle, Mädchen erkennen sich als Mädchen und lernen die Mädchenrolle.

Da ist kein Anhaltspunkt Auslöser für die Renitenz, mit der sich transidente Menschen früher oder später und mehr oder weniger krass quer zu den Erwartungen legen. Wieso verhält sich jemand „mädchenhaft“, der diese Rolle weder gelernt hat, noch von seinen körperlichen (genetischen, hormonellen …) Voraussetzungen dazu prädestiniert ist? Und natürlich erst recht nicht von seinem sozialen Umfeld (Eltern und Geschwister insbesondere) dazu ermutigt wird. Ganz im Gegenteil. Das Kind muss, wenn die Geschlechtssozialisation so machtvoll wirkt, wie behauptet, eine enorme Kraft aufbringen, um dem Sog zu widerstehen!

Die referierten Sichtweisen haben allesamt eine Schwäche, die durch die Existenz von transidenten Menschen offenbar wird: solche Menschen wie mich, dürfte es gar nicht geben! Nach allen Theorien entwickelt sich die Geschlechtsidentität parallel zum körperlichen Geschlecht und orientiert an entsprechenden Vorbildern.

Selbstbeschreibung

Ich bin nie zum Mädchen erzogen worden. Allerdings auch nicht zum typischen Jungen. Ich hatte das große Glück, dass meine Eltern mich sehr weitgehend das machen ließen, was ich wollte. Nie wurde ich zum Fußball spielen geschickt, wenn ich den Nachmittag bei schönstem Wetter lieber mit dem Lesen von Indianer- oder Tiergeschichten verbringen wollte. Es gab von Seiten meiner Eltern keinen Druck auf mich, Jungsspiele zu spielen.

Allerdings hatte ich schon früh die Tendenz, nicht einfach dass zu tun, was mir gefiel, sondern es im Hinblick auf das kritisch zu überprüfen, was sich für einen Jungen meiner Meinung nach gehörte. Und das nicht deshalb, weil ich es richtig fand, sondern weil ich meinte, dass ich den Erwartungen der Umwelt genügen müsste.

Ich beneidete den Nachbarsjungen, der zum Schulfasching in der 1. Klasse als Mädchen verkleidet im Dirndl seiner Cousine kam. Abgesehen davon, dass es in meinem Zugriff keine Mädchenkleider gab, hätte ich mich das sowieso nie getraut. Ich ging als Kind in immer der gleichen Verkleidung zum Fasching – als Cowboy.

Ich habe mich auch nie getraut, beim kleinkindlich- gemischtgeschlechtlichen Rollenspiel „Vater-Mutter- Kind“ die Rolle der Mutter einzufordern. Die war fest an die Nachbarstochter vergeben. Ich versuchte wenigstens, nicht der Vater sein zu müssen.

Wenn es also überhaupt eine Erziehung in Richtung auf eine männliche Rolle gab, dann war es mein vorauseilender Gehorsam bzw. meine vorauseilende Anpassung an Rollenstereotype, die ich zwar eigentlich nicht gut fand, von denen ich aber als Kind meinte, ihnen nicht entkommen zu können.

Nicht jede von uns ist ein kleiner Ludovic (aus dem Film „La vie en rose“), der mit seinen Mädchenattitüden seine Eltern und seine sonstige Umwelt zur Verzweiflung treibt.

Viele transidente Menschen sind als Kind weniger feige gewesen als ich in meiner Kindheit. Sie haben Mutter oder Prinzessin gespielt, wenn sie es wollten. Oder eben auch, wenn sie Mädchen waren, Superheld oder Pirat. Sie sind auch in der Verkleidung zum Kinderfasching gegangen, die ihnen gefiel. Und das sogar obwohl sie eventuell viel stärker als ich entsprechend den Rollenstereotypen ihres Geburtsgeschlechtes erzogen wurden.

So gesehen bin ich fast das schlechteste Beispiel für die Tendenz transidenter Menschen, schon als Kinder ihrer Erziehung zu trotzen und ihrer abweichenden Identität und den damit zusammenhängenden Wünschen Ausdruck zu verleihen.

Es gab für mich nie einen äußeren Anlass eine andere als eine ungebrochen männliche Geschlechtsidentität zu entwickeln. Ich habe mir sogar alle Mühe gegeben es zu tun, weil ich dachte, das müsse so sein.

Gleichwohl habe ich so lange ich mich zurückerinnern kann und das bedeutet schon ab früher Kindheit, die Tatsache, dass ich ein Junge war, selbst ziemlich kritisch gesehen. Sprich: ich habe es als Tatsache hingenommen (Kinder zweifeln nicht am offensichtlichen). Doch zugleich habe ich darüber nachgedacht, wieso es eigentlich so gekommen ist und mich gefragt, wieso ich eigentlich kein Mädchen war.

Es ist für mich nicht ersichtlich, aus welchen Gründen die Geschlechtsrollenübernahme bei mir gescheitert sein sollte.
Ist sie aber!
Habe ich etwas falsch gemacht? Wenn ja, was? 

Schlussfolgerungen

Es kann nicht alles anerzogen sein!
Woher hatte ich sonst die tiefsitzenden Zweifel, kein richtiger Junge zu sein. Meine Eltern und auch meine sonstige Umwelt hatte nichts dazu getan, diese Zweifel entstehen zu lassen. Nicht bewusst und auch nicht unbeabsichtigt.

Ich wurde weder vernachlässigt noch verhätschelt. Ich wurde nicht misshandelt oder traumatisiert. Da war einfach nichts, was ich als Ursache dafür nehmen könnte, dass ich über meine Geschlechtlichkeit schon früh nachdachte.

Im Grunde genommen war es gerade die Selbstverständlichkeit, mit der ich von aller Welt als Junge angesehen wurde, die mich irritierte. Denn ich war mir da aus tiefstem Herzen, meinem Körper zum Trotz, nicht so sicher.

Wie konnte es sein, dass ich so voller Zweifel war, wenn die Sache für alle anderen doch so eindeutig war? Dafür gibt es meiner Ansicht nach nur eine Erklärung: die Ursache liegt tiefer!

Es muss einen tieferen, vorhergehenden Grund dafür geben, dass auch eigentlich „nichtgemeinte“ bestimmte Geschlechtsrollen adaptieren. Woher weiß ein Junge oder ein Mädchen, mit wem es sich zu identifizieren hat? Woher weiß das Kind, was das gleiche und was das andere Geschlecht ist?

Üblicherweise wird die Entwicklung der Geschlechtsidentität etwa so verstanden, das sie zunächst eine bestimmte Geschlechtszugehörigkeit (sex) umfasst. Dann erst wird sie von der Übernahme der entsprechenden Rollen (gender) geprägt.

Offensichtlich gibt es aber auch Fälle, in denen Identität, körperliches Geschlecht und erwartete Rolle auseinanderfallen. Die Tatsache, dass es transidente Menschen gibt, deutet meines Erachtens darauf hin, dass die (Geschlechts-)Identität ein die Aspekte Sex und Gender ergänzender und von diesen unabhängiger Faktor ist. Und dabei gibt es offensichtlich auch Fälle, in denen Identität und erwartete Rolle auseinanderfallen. Doch wieso das passieren kann und vor allem wie ist bisher noch unerforscht.

Das körperliche Geschlecht markiert dabei den Ausgangspunkt eines Prozesses, in dem die Geschlechtsidentität und die Übernahme bestimmter Geschlechtsrollen sich gegenseitig beeinflussen. Jedoch sind die Gewichte zwischen Identität und Gender nicht gleich verteilt. Sondern die Identität ist, wenn einmal gefestigt, sehr stabil, während die Geschlechtsrolle größere Varianz aufweist.

Es ist meiner Meinung nach zu kurz gegriffen, die Theorien angesichts der Evidenz, dass es eben auch anders kommen kann, ungebrochen weiter zu verwenden. Man kann sich nicht mehr darauf zurückziehen, dass bei transidenten Personen eben „irgendwas schief gegangen“ ist.

Vielleicht sollten Transgender der Anlass sein, noch gründlicher und tiefer über das Thema nachzudenken und zu forschen.

Die Tatsache der Existenz transidenter Menschen, die glaubhaft und seriös von sich selbst behaupten, eine für ihr Geburtsgeschlecht extrem untypische (vorsichtig formuliert) Identität zu haben, ist vielleicht nicht zwingend eine Widerlegung der oben referierten Theorien. Doch sie ist zumindest ein Indiz, dass der aktuelle Stand der Wissenschaft noch nicht die Antwort auf alle Fragen liefert.

In den meisten Fällen kommt es zu keinen Konflikten. Mädchen fühlen sich als Mädchen und übernehmen die entsprechende Geschlechtsrolle, ebenso umgekehrt Jungen.

Doch in gar nicht so seltenen Ausnahmefällen entwickelt sich die Identität unabhängig von den körperlichen Gegebenheiten. Dann ist die Frage, wie sehr sich dieses Individuum mit den primär durch seine äußere Erscheinung geprägten Geschlechtsrollenerwartungen anfreunden kann.

Wenn der Widerstand groß ist, dann majorisieren Gender und Identität gemeinsam das körperliche Geschlecht. Eine transsexuelle Person sieht letztendlich keinen anderen Weg, als den „falschen“ Teil ihrer Persönlichkeit, nämlich die unpassende körperliche Erscheinung, so zu verändern, dass sie zum Rest der Persönlichkeit passt.

In anderen Fällen, zu denen ich mich rechnen würde, ist die Unzufriedenheit mit der körperlich vorgegebenen Geschlechtsrolle nicht ganz so groß. Den Rollenerwartungen des Geburtsgeschlechtes zu entsprechen ist zwar eher Pflicht als Neigung, aber eben auch keine Pflicht, die zutiefst gehasst wird.

Hier kann der Körper bleiben wie er ist. Jedoch führt die abweichende Identität immer wieder zu mehr oder weniger großen Rebellionen, gegen ein den externen Rollenerwartungen konformes Leben. Die stets unter der Oberfläche lauernde weibliche Identität braucht in mehr oder weniger großem Maße ihren Raum. Da der Körper, jedenfalls nicht grundsätzlich in Frage gestellt wird, bleibt Menschen wie mir nur das ausagieren über die Geschlechtsrolle.

Der (in meinem Fall) temporäre Wechsel in die weibliche Rolle ist der Preis für den Frieden, den meine Identität mit dem Körper gemacht hat. Und so pendele ich in meiner Genderpräsentation zwischen zwei Zuständen. Als Mann genüge ich den Rollenerwartungen, die mein Körper impliziert. Und als Frau verwirkliche ich meine Identität, die bei diesem Konzept zu kurz kommt. 

Seltsam

Eventuell haben wir es der Dominanz der psychologischen Theorien über die Entstehung und Behandlung von Transvestitismus und Transsexualität, die weitgehend von einem sexuell orientierten Zugang geprägt sind, zu verdanken, dass wir von den „Fachleuten“ nicht als Erkenntnisquelle gesehen werden.

An anderer Stelle (Identität statt Sexualität) habe ich ja schon energisch dafür gekämpft, dass unsere Besonderheit nicht dauernd als skurrile, sexuell motivierte Devianz gesehen wird.

Na klar, sollten wir einfach nur sexuell-fetischistisch motiviert sein, dann kann man aus unserer Existenz natürlich nichts für die Identitätsentwicklung lernen.

Doch wenn es anders wäre? Wenn es bei uns tatsächlich um Identität ginge?
Dann wäre es ein Fehler, transidente Personen nicht als Erkenntnisquelle für die Wissenschaft in diesen Fragen zu nutzen.

Aber eventuell wirkt hier noch ein anderer Effekt. Die Forschung über die Besonderheiten von spezifischen gesellschaftlichen Gruppen werden in der Regel von Angehörigen eben dieser Gruppen vorangetrieben. Forschung über die soziale Situation von Frauen wird von Frauen betrieben. Viele Homosexualitätsforscher/innen waren bzw. sind homosexuell. Migrant/innen forschen über die Probleme von Migrant/innen usw usf.

Es scheint, als wäre es höchste Zeit für kompetente Sozialwissenschaftler/innen, Psycholog/innen und Soziolog/innen mit transidentem Hintergrund.

Aufruf

Diesen Aufsatz möchte ich mit einem nur teilweise scherzhaft gemeinten Aufruf schließen:

Könnte mir bitte jemand ein wenig Geld (20 Mio Euro würden für’s Erste reichen) für den Aufbau eines interdisziplinären Forschungszentrums mit dem Ziel einer soliden Forschung über Transidentität zur Verfügung stellen? Eventuell würden dabei auch verbesserte Theorien über die Konstruktion der Identität insgesamt und der Geschlechtsidentität im besonderen herauskommen.

Zum Start würde mir auch ein Lehrstuhl für interdisziplinäre Transidentitätsforschung (mit hinreichenden Forschungsfreiräumen) ausreichen.

Querverweise

  • Identität statt Sexualität: eine Ergänzung zu diesem Aufsatz, die in die gleiche Kerbe haut
  • Ich muss raus! Hier setze ich mich näher damit auseinander, dass und wieso die unter der männlichen Oberfläche lauernden Anteile nicht versteckt bleiben können, sondern gelebt werden müssen
  • Hekates an der Psychologie von C. G. Jung orientierte Animagie
  • Two Spirit: Üblicherweise wird von den Fachleuten und auch von uns selbst angenommen, dass die Entstehung einer vom körperlichen Geschlecht abweichenden Geschlechtsidentität ein „Fehler“, wenn nicht so gar eine Krankheit ist. Aber man kann es auch als Ressource sehen!
  • Was ist Gender?

© Jula 2012

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