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Die Gendertreppe

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Gendertreppe

Der Weg zur Selbstbestimmung über das eigene Gender ist weit. Es ist nicht damit getan, Gender als eigene Kategorie neben dem körperlichen Geschlecht anzuerkennen.

Erst wenn allgemein akzeptiert ist, dass Gender und Körper nicht zwangsweise parallel gehen müssen, wird es für viele Transgender möglich sein, als die Person zu leben, die sie innerlich sind.

Vorstufe

Bevor ich über die Gendertreppe spreche, muss ich über eine Vorstufe reden. Die Vorstufe zu diesem Thema ist die Leugnung, dass es überhaupt so etwas wie ein vom körperlichen Geschlecht zu unterscheidendes Gender gibt. Schon an dieser Stelle scheitern viele Diskussionen. Denn Menschen, bei denen Körper und Genderidentität nicht auseinanderfallen, nur schwer nachvollziehen können, dass es sich dabei um zwei verschiedene Aspekte handelt.
Siehe dazu auch Was ist Gender.

Stufenmodell

Doch selbst wenn diese Hürde genommen ist, hören die Probleme noch nicht auf. enn dann kommt es darauf an, wie sich körperliches Geschlecht und soziale Rolle zueinander verhalten.

Es gibt drei verschiedene Sichweisen zum Verhältnis von Geschlecht und Gender. Diese drei Sichtweisen lassen sich in einem Stufenmodell darstellen, weil sie aufeinander aufbauen und zeitlich aufeinander folgen.

Die Prämisse lautet, dass sich Gender zwingend und ausschließlich aus dem Körper ergibt. Diese Annahme hat zwangsläufig die Folge, dass bei allen Personen, bei denen die Geschlechtsidentität und körperliches Geschlecht nicht übereinstimmen, etwas falsch ist. Unterschiedliche Meinungen kann man lediglich darüber haben, was genau falsch ist.

Die herkömmliche Meinung in der Gesellschaft und damit vermutlich der meisten Menschen ist sicher, dass der Körper richtig ist und das innere Geschlechtsempfinden falsch. Viele Betroffene, vor allem Transsexuelle vertreten die Gegenmeinung. Danach ist das Geschlechtsempfinden richtig und der Körper falsch. Egal, ob so oder so, die Folge für das Gender ist jeweils, dass Kongruenz mit dem Körper hergestellt werden muss. Entweder durch Veränderung des Geschlechtsempfindens oder durch Veränderung des Körpers.

Erst in den letzten Jahrzehnten hat sich eine dritte Position entwickelt. Sie kritisiert die Grundannahme und sagt, dass weder der Körper noch das Gender falsch sind, sondern das Modell, das fordert, dass beide parallel gehen müssen.

Stufe 1 Gender folgt Körper (traditionale Stufe)

Der Mensch wird als identisch mit dem Körper gesehen, der folglich zwingend die soziale Rolle prägt. Auf Basis dieser Sichtweise kann es keine vom körperlichen Geschlecht abweichende soziale Geschlechtsrolle geben.

Personen, die für sich in Anspruch nehmen, dass nicht allein ihr Körper sie einem Geschlecht zuordnet, gelten als pervers oder verrückt. Diese Sicht auf Geschlecht und Gender ist die historisch erste. Immer noch sind die meisten Menschen von diesem Modell überzeugt.

Ich nenne diese Stufe die „traditionale Stufe“, weil naive, vortheoretische Sichtweise die Sicht auf Geschlecht und Gender prägen. Moderne wissenschaftliche Erkenntnisse zur Biologie der Geschlechter, spielen keine entscheidende Rolle. Ebenso wenig wird die prägende Bedeutung der Psyche für die Bildung von Geschlechtsidentität wahrgenommen. Jede Person hat so zu sein, wie es aufgrund ihres Körpers den Anschein hat. Diese Sicht ist auch das, was die Religionen unseres Kulturkreises vermitteln („Als Mann und Frau schuf er sie“).

Stufe 2 Körper folgt Gender (medizinische Stufe)

Auf dieser Stufe wird als Tatsache akzeptiert, dass Körper und Geschlechtsidentität im Ausnahmefall auseinanderfallen können. Unangetastet bleibt jedoch die Prämisse, dass Körper und Gender übereinstimmen müssen. Da sich an der Überzeugung der Personen, welchem Gender sie zugehörig sind, nichts ändern lässt und diese Überzeugung ernstgenommen wird, bleibt nur die Schlussfolgerung, dass der Körper falsch ist. Folglich erwartet die Gesellschaft im Rahmen der Möglichkeiten dessen Anpassung.

Das TSG, aber auch viele Betroffene befinden sich auf dieser Stufe. Die Diskrepanz zwischen Körper und angestrebtem Gender muss aufgelöst werden und das Mittel dazu ist die Veränderung des Körpers.

Es liegt nahe, das so zu sehen. Denn man kann den Körper zwar nicht austauschen, doch man kann beeinflussen, wie er aussieht. Für Gender kommt es letztlich nicht darauf an, wie ein Körper biologisch sein mag und ob er bezüglich auf das biologische Geschlecht funktional ist. Es kommt nur darauf an, dass er erwartungsgemäß aussieht.

Den Beinamen „medizinische Stufe“ habe ich dieser Stufe gegeben, weil die Definitionshoheit, wer eine Person zu sein hat, den Mediziner*innen übertragen wird. Die Gesellschaft erkennt an, dass das „richtige“ Gender einer Person durchaus vom körperlichen Anschein abweichen kann. Jedoch muss dieses Auseinanderfallen möglichst beseitigt werden. Die Inkongruenz von Geschlechtsidentität und Körper wird zu einem medizinischen Problem, das folglich mit medizinischen Mitteln zu korrigieren ist.

Transidentität wird zwar nicht mehr, wie auf Stufe 1 als Realitätsverlust eingeordnet. Aber sie soll als krankhafte Normabweichung immer noch im Rahmen der Möglichkeiten zum Verschwinden gebracht werden.

Stufe 3 Entkoppelung von Körper und Gender (sozialwissenschaftliche Stufe)

Auf dieser Stufe erkennt die Gesellschaft die biologische Diversität der Individuen an. Dementsprechend kritisiert sie das Modell und nicht die Natur oder das Individuum. Wenn ein Modell die Vielfalt nicht richtig beschreiben kann, dann liegt die Lösung in der Anpassung des Modells und nicht in der Beseitigung der Varianz. Dementsprechend wird die Koppelung von Körper und Gender kritisiert. In der Folge wird nicht mehr zwingend die Anpassung der Individuen an dieses Modell verlangt.

Gendertheoretiker*innen und ebenso viele Betroffene, die sich als Queer verstehen, argumentieren aus dieser Position heraus. Sie sehen Gender nicht als eine natürliche Tatsache, sondern als ein Modell.

Ähnlich, wenn auch mit Fokus auf die rechtliche Situation sehen die Menschenrechte und deren Interpretation durch internationale Organisationen (COE, FRA) die Lage. Sie kritisieren zwar nicht offensiv das Modell von Gender, aber sie verlangen, dass jede Person rechtlich so zu behandeln ist, dass sie ein diskrimierungsfreies Recht auf freie Entfaltung ihrer Individualität hat. Dem steht jedoch praktisch das rigide, die natürliche Vielfalt verneinende Raster von zwei überschneidungsfreien und am Körper erkennbaren Gendern entgegen.

Diese Stufe bezeichne ich auch als sozialwissenschaftliche Stufe, weil die Leitwissenschaften für den Umgang mit der Thematik nunmehr die Sozialwissenschaften sind. Es geht nicht mehr um die Anpassung von Individuen. Sondern es geht um die Gestaltung von sozialen Modellen, die die Vielfalt der Natur akzeptieren. Deshalb wird nicht vorrangig versucht, das Individuum zu korrigieren, sondern die Modelle, mit denen die Gesellschaft die Individuen einordnet und behandelt.

Alle drei Stufen exisitieren in unserer Gesellschaft

In unserer Gesellschaft gibt es Vertreter*innen für jede der drei Stufen. Vermutlich ist die 2. Stufe die in unserer Gesellschaft am weitesten verbreitete. Es gibt immer noch eine relevante Anzahl von Traditionalisten. Doch es gibt auch schon eine relevante Avantgarde, die sich der Stufe 3 zuordnen lässt.

Schwierig ist, dass aus der Sicht jeder Stufe die jeweils anderen „Unfug“ sind. Es gibt keine Schnittmenge, die Kompromisse ermöglichen würde, sondern man muss sich entscheiden. Entweder ist Gender zwingend an körperliche Eigenschaften gekoppelt oder eben nicht.

Leider gibt es keine Wahrheit, die man zur Entscheidung, wer nun richtig liegt, heranziehen könnte. Keine der Streitparteien hat eine Chance zu beweisen, dass die anderen falsch liegen und man selbst richtig.

Ich kann nur hoffen, dass die menschen- und damit transgenderfreundliche Sicht von Stufe 3 sich durchsetzen wird.

Querbezüge

© Jula Böge 2016

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