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Magnus Hirschfeld – Die Transvestiten

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Hirschfeld -Die Transvestiten

1. Wieso beschreibe ich dieses Buch?

Es gibt Bücher, die tauchen plötzlich so intensiv und von verschiedenen Seiten im Leben auf, dass man sich ihnen nicht entziehen kann. So ging es mir aktuell mit dem Buch „Die Transvestiten“ von Magnus Hirschfeld.

An der Magnus-Hirschfeld-Stele

Im ersten Halbjahr 2006 war ich viel in Berlin und hatte ein Zimmer in der Otto-Suhr-Allee. Irgendwie wurde ich darauf aufmerksam, dass in dieser Straße früher auch M. Hirschfeld gewohnt hatte und dass es dort, wo früher sein Haus stand, eine Säule zum Gedenken an den Sexualforscher gäbe. Dann bin ich bei der Besichtigung des Jüdischen Museums über eine Vitrine gestolpert, die Hirschfeld gewidmet ist. Und schließlich bin in einer Buchhandlung über eine Neuauflage seines Buches „Weltreise eines Sexualforschers gestolpert.

Eine liebe Freundin, die vor fast schon 50 Jahren mal ein Exemplar in einer Bibliothek zu fassen bekommen hatte, schwärmte mir davon vor. Ich hatte sowieso schon viel davon gehört, denn in vielen Werken über transidente Menschen wird Hirschfelds Buch zitiert. Aber als sie mir dann noch von wunderbaren Fallgeschichten inclusive einem Selbstmord einer Betroffenen aus Liebe berichtete, da war mir klar: Das muss ich lesen!

2. Über Magnus Hirschfeld

Geboren am 14. Mai 1868 in Kolberg, heute Kołobrzeg; gestorben am 14. Mai 1935 im Exil in Nizza

Seine wesentlichen Eigenschaften: er war Arzt, er war Jude, er war homosexuell.

Hirschfeld war ein großer Vorkämpfer der Schwulen-Bewegung und in dieser Sache nicht uneigennützig. Sein Hauptverdienst aus heutiger Sicht lag in seinen Versuchen die Homosexualität zu entkriminalisieren.

Die Erinnerung an ihn ist allerdings auch problematisch. Magnus Hirschfeld vertrat auch eugenische Ideen und war Mitglied der Gesellschaft für Rassenhygiene. An der einen oder anderen Stelle schimmern diese Gedanken auch in den „Transvestiten“ durch. So macht er sich z.B. Gedanken, ob es wirklich günstig ist, wenn sehr feminine Männer mit ebenfalls ausgeprägt femininen Frauen Kinder zeugen.

3. Über das Buch allgemein

Der vollständige Titel lautet: „Die Transvestiten – eine Untersuchung über den erotischen Verkleidungstrieb mit umfangreichem casuistischen und historischen Material“.

Das Buch ist mit fast 600 Seiten ein ziemlicher Klotz.
Es handelt zwar dem Titel nach allein von Transvestiten. Doch dieser Eindruck trügt. Hirschfeld hat mit diesem Buch überhaupt erst den Begriff erfunden. Er bezeichnet damit alle Erscheinungsformen des Geschlechtsverkleidungstriebes. Der Begriff „Transsexuelle“ wurde erst ca. 1925 von Hirschfeld erfunden und erst in den 40er Jahren durch Harry Benjamin populär gemacht. Nach heutiger Sicht waren viele der Menschen, die Hirschfeld beschreibt, sicherlich transsexuell. Bloß weil es damals weder den Begriff gab noch es überhaupt realistisch war, nur an eine körperliche Umwandlung zu denken (außer als Träumerei), konnten die Betroffenen auch keine konkreten dahin gehenden Wünsche äußern. Sie mussten sich so arrangieren, wie es in ihrer Zeit möglich war.

Der 1. Auflage im Jahr 1910 folgte eine 2. Auflage 1925. Aus der von Hirschfeld angekündigten illustrierten Ausgabe ist nie etwas geworden.Allerdings produzierte er auf Grund der starken Nachfrage zusammen mit Max Tilke im Jahre 1912 einen 2. Band mit Illustrationen.

Durch die Bücherverbrennungen der Nazis ist das Buch noch seltener geworden, als das bei einem Buch von Anfang des 20. Jahrhunderts ohnehin schon zu erwarten ist. Es gibt in deutschen Bibliotheken kaum mehr als ein Dutzend Exemplare, die in allgemeinen Katalogen verzeichnet sind.

Auf dem normalen Markt gibt es derzeit nur eine englische Ausgabe und selbst die nur antiquarisch.

4. Inhalt

Was steht denn nun in diesem Buch mit dem verheißungsvollen Titel? Da es so schlecht zu bekommen ist, folgt ein kleiner, subjektiver Durchgang durch den Text.

Es gliedert sich in drei große Teile.

I. Casuistik und Analyse

17 Fallbeschreibungen
Hirschfeld beschreibt „offiziell“ nur 17 Fälle. Es sind 16 Männer und eine Frau (Fall 15), die in verschiedenem Maße jeweils im anderen Geschlecht lebten. Tatsächlich aber gibt es im weiteren Verlauf des Buches noch weitere Fälle, die einbezogen werden.
Zunächst gibt es immer einen kleinen Vorspann, wo die Person mit ihren wichtigen Daten und Eigenschaften beschrieben wird.

Die Geschichte wird der höheren Authentizität Willen häufig von der Person selbst in Ich-Form geschildert. Basis dieser Schilderungen ist das Vorgehen von Hirschfeld, der die Patienten aufforderte, ausführliche Lebensläufe zu verfassen.
Hirschfeld versichert, alle Angaben seien weitestgehend überprüft und er habe die meisten seiner Patienten sowohl in weiblicher als auch in männlicher Rolle (zumindest auf Fotos) gesehen.

Die Fallbeschreibungen finde ich aus heutiger Sicht gerade deshalb so spannend, weil es für die Menschen damals keine Möglichkeit zur körperlichen Geschlechtsanpassung gab, kein TSG, und nicht mal die Gemeinschaft mit anderen Transgendern. Jeder von Ihnen musste sich sein Leben individuell zurechtzimmern. Und dabei waren sie bewundernswert erfolgreich und fantasievoll. Ihre Geschichten lesen sich teilweise wie Abenteuerromane.

Analyse

Hirschfeld spricht von dem „ungemein starken Einfluss“ (160), den die Kleidung auf das Seelenleben der Betroffenen hat und davon,“dass sämtliche, dem übermäßigen Drange folgend, schließlich nicht nur komplette weibliche Garderobe anschaffen und vor dem Spiegel heimlich anlegen, sondern dass diese auch, und zwar of unter nicht geringen Schwierigkeiten und Gefahren längere oder kürzere Zeit die Rolle der Frau durchführen“
(162).

Aus den vielfältigen Feststellungen Hirschfelds greife ich eine heute noch interessante, weil immer noch als Gerücht oder gegenläufige Vermutung aktuelle Beobachtung heraus: es gibt keine Korrelation zwischen der gestörten Geschlechtsidentität und irgendwelchen körperlichen Merkmalen. Feminin fühlende Männer sehen nicht femininer aus als der Durchschnittsmann, glauben dies aber gern von sich selbst. „Vielfach bilden sich zwar die Transvestiten vor dem Spiegel stehend ein, ihre Formen seien weicher und weiblicher, wie die gewöhnlicher Männer; aber ihre rauhe Haut, die behaarte Brust, der starke Bartwuchs, der schlanke, oft sehnige Körperbau, die straffen Linien und Züge, die tiefe Stimme zeigen, dass es sich um eine angenehme Selbsttäuschung handelt, die übrigens keine tiefgehende ist, auch nicht den Charakter einer Wahnidee trägt; sie wissen ganz genau, dass ein tiefer Widerspruch zwischen ihrem Körper und ihrer Seele klafft.“
(166)

Da es damals die heutigen diagnostischen Kategorien (ebenso übrigens wie bei den später von Bürger-Prinz beschriebenen Fällen) noch nicht gab, durch die Transsexualität bei Vorliegen von sexueller Erregung praktisch ausgeschlossen ist, konnten diese Menschen noch ganz unbefangen von ihrem Gefühlsleben berichten. Danach kommt Hirschfeld zu der Feststellung(178): „Dass dem Verweichlichungstrieb schon als solchem, ohne dass es dabei der Vorstellung oder Anwesenheit einer zweiten Person bedarf, ein erotischer Charakter innewohnt, geht unter anderem daraus hervor, dass die Ausführung der Metamorphose allein deutlich geschlechtliche Lustempfindungen auslöst, abgesehen davon, dass sie … mit dem Gefühl sexueller Schamhaftigkeit verbunden ist.“

II. Kritischer Teil

Abgrenzung von anderen Phänomenen = Differentialdiagnose

In diesem Part sehe ich die stärkste wissenschaftliche Leistung von Hirschfeld.

All die Parallelen zu anderen Phänomenen, die sich z.B. in den Einordnungen in ICD10 und DSM-IV ausdrücken, sind problematisch … und Hirschfeld hat damals schon sehr präzise hingeguckt und erklärt, warum der Geschlechtsvertreibungstrieb nun mal nicht identisch mit Fetischismus ist. Und auch, dass Homosexualität zwar ein Phänomen im Umfeld ist, aber tatsächlich eher wenig mit Transvestitismus zu tun hat.

Selbst die (wie ich dachte) moderne Theorie der Autogynaephilie wird, wenn auch unter anderem Namen, einer kritischen Würdigung unterzogen.

Homosexualität

Hirschfeld räumt schon damals komplett mit dem Vorurteil auf, transidente Menschen seien im Grunde eine seltsame Abart von Homosexuellen:“Meldet sich aber der (Zusatz: sexuelle) Betätigungsdrang, so richtet er sich in fast allen Fällen entsprechend der körperlichen Konstitution sogleich auf eine Person des entgegengesetzten Geschlechts.“
167f)

„Effemination und Homosexualität treten uns jetzt als gesonderte Erscheinungen entgegen, die zwar oft, aber keineswegs immer vergesellschaftet auftreten.“
(188)

Fetischismus

Bezüglich der Definition von Fetischismus lehnt sich Hirschfeld stark an Krafft-Ebing an und argumentiert ausgehend von der Feststellung, dass Fetischismus sich immer auf ganz bestimmte Körperteile oder Kleidungsstücke konzentriert:“Eine Teilanziehung, die sich auf das ganze äußere eines Weibes „vom Scheitel bis zur Sohle“ erstreckt, ist ein Widerspruch in sich, ein Unding. Ferner sehen wir beim Fetischisten auch ganz anders wie beim Transvestiten, dass er das Objekt seiner Neigung in erster Linie in Verbindung mit einer zweiten Person, in mehr pathologischen Fällen auch von dieser losgelöst, allein für sich liebt, … keineswegs aber hauptsächlich als Teil von sich selbst.“
(203)

„Kurz es fehlt bei den Fetischisten der in unseren Fällen so ausgeprägte Drang, die Gestalt des geliebten Gegenstandes anzunehmen, sich mit ihm zu identifizieren, quasi in sie sich zu verwandeln.“
(203f)

Masochismus

Hirschfeld gesteht zu: „Auch bei unseren erwachsenen Transvestiten findet sich mancherlei, was einen masochistischen Eindruck macht;…“
(221)

stellt dann aber fest: „Bei unseren Transvestiten lassen sich fast alle Züge, die zunächst als masochistische imponieren, zwanglos auf den Effeminationswunsch zurückführen, …“

und „Gibt es unter den Transvestiten nur wenig algophile (schmerzliebende), so findet sich auf der anderen Seite unter der, wie es scheint, recht ausgedehnten Gemeinde masochistischer Männer nur höchst selten einer, bei dem der Trieb, sich als Weib zu kleiden, vorhanden ist.“
(232)

Das führt Hirschfeld dann zu der Schlussfolgerung:“Nach allem können wir den Masochismus nur als gelegentliche Begleiterscheinung, keineswegs als ursächliches Motiv des Verkleidungstriebes ansehen und ebensowenig diesen als Erscheinungsform des Masochismus.“
(235)

Paranoia

Hirschfeld stellt klar fest, dass Transvestiten keinen Wahnvorstellungen unterliegen:“So sehr sich die transvestitischen Männer in ihrer Verkleidung als Frauen, die Frauen als Männer fühlen, so bleiben sie sich doch stets bewusst, dass sie es in Wirklichkeit nicht sind. Wohl bilden sich manche von ihnen ein – wenn je, so ist hier der Wunsch der Vater des Gedankens – dass ihre Haut zarter, ihre Formen runder, ihre Bewegungen graziöser seien, wie die gewöhnlicher Männer, aber sie wissen ganz genau und sind oft deprimiert darüber, dass sie körperlich nicht dem von ihnen geliebten und begehrten Geschlecht angehören.“
(235)

Selbstliebe

Hirschfeld referiert mehrere zeitgenössische Theorien, bei denen es um Eigenliebe geht, u.a. den Autoerotismus von Havelock Ellis (Der mit dem Begriff „Eonismus“!), verneint aber eine Übereinstimmung mit diesen.

Andererseits: die von Blanchard in seinem Autogynaephilie-Konzept behauptete sexuelle Komponente auch bei TS, die heutzutage von vielen Betroffenen und von der klassischen Diagnostik (s. z.B. die Beschreibung zu TS in ICD-10) bestritten wird, findet auch Hirschfeld bei seinen Fällen! (sS 178!!)
Ganz nah bei Blanchard befindet sich Hirschfeld, wenn er schreibt: „Bei manchen dieser Schilderungen ist man fast versucht, zu denken, dass hier eine Spaltung der Persönlichkeit dergestalt eintritt, dass der männliche Teil in der Psyche dieser Menschen sich an ihrem weiblichen Teil sexuell errege, dass sie sich nicht nur zu dem Weibe außer sich, sondern noch mehr zu dem Weibe in sich hingezogen fühlen.“
(179)

Im Ergebnis bezeichnet Hirschfeld den Verkleidungstrieb als Zwangsvorstellung: „Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass dem seltsamen Drang womöglich bis in die kleinsten Kleinigkeiten die Gestalt des anderen Geschlechts anzunehmen ein ähnlich obsedierender Charakter innewohnt, wie etwa dem pathologischen Wandertrieb (Dromomanie), der Sammelwut, Spielwut, Kaufsucht, der Dipsomanie, Pyromanie, Kleptomanie und ähnlichen…Es handelt sich … um ein psychisches Element, das sich bei intakter Intelligenz und Einsicht in den Vordergrund des Bewusstseins drängt, sich trotz Gegenstrebens nicht aus dem Geist des Individuums verscheuchen lässt, und den normalen Ablauf der Vorstellungen durchkreuzt.“
(253)

Allerdings begründet Hirschfeld wortreich am Beispiel der Liebe, warum nicht jede Zwangsvorstellung Krankheitscharakter hat.

Nach Überlegungen zur Bedeutung von Kleidung kommt Hirschfeld zu einer weiteren sehr interessanten Aussagen:“Vergegenwärtigen wir uns noch einmal den ganzen Komplex der transvestitischen Neigungen und erwägen dann, inwieweit wir das Wesen der Kleidung als Symbol, als unbewusste Projektion der Seele erkannten, so dürfte es klar sein, dass in der Psyche dieser Männer ein weiblicher Einschlag – und bei den weiblichen Pendants ein männlicher – vorhanden ist, der nach äußerer Projektion drängt.“
(274)

Zwischenstufentheorie

Ich habe die Theorie von Hirschfeld erst gelesen, nachdem ich mein Rad der Geschlechter entworfen hatte. Und es freut mich, dass andere ähnliche Ideen hatten.“Wir verstehen unter sexuellen Zwischenstufen männlich geartete Frauen und weiblich geartete Männer in allen möglichen Abstufungen oder mit anderen Worten: Männer mit weiblichen und Frauen mit männlichen Einschlägen.“
(275)

Hirschfeld nennt vier Merkmalsgruppen die jeweils männlich, weiblich oder auch beides sein können:“I. die Geschlechtsorgane,
II. die sonstigen körperlichen Eigenschaften,
III. den Geschlechtstrieb,
IV. die sonstigen seelischen Eigenschaften.“
(281)

Nach näherer Ausdifferenzierung kommt Hirschfeld zu 43.046.721 möglichen Eigenschaftskombinationen und gesteht zu, dass es durchaus, bei feinerer Betrachtung mehr mögliche Kombination als Menschen auf der Welt geben könnte.“Die Zahl der denkbaren und tatsächlichen sexuellen Varietäten ist nahezu unendlich, in jedem Menschen findet sich eine verschiedene Mischung männlicher und weiblicher Substanz, und wie wir nicht imstande sind, zwei gleiche Blätter an einem Baum ausfindig zu mache, so werden wir höchst wahrscheinlich auch nicht zwei menschliche Wesen auffinden können, in denen das Mischungsverhältnis des männlichen und des weiblichen Prinzips nach Art und Menge vollkommen übereinstimmt.“
(292)

Ein Rad!

Hirschfeld ordnet diese verschiedenen Erscheinungsformen und erhält im Ergebnis nicht nur ein Kontinuum, was angesichts des immer noch vorherrschenden Glaubens an eine schlichte Zweiteilung schon erstaunlich genug wäre, sondern ein Rad bzw. einen Kreis! „Alle diese sexuellen Varietäten bilden einen vollkommen geschlossenen Kreis, in dessen Peripherie die angeführten Zwischenstufentypen nur besonders markante Punkte darstellen, zwischen denen aber keine leeren Punkte vorhanden sind, sondern lückenlose Verbindungslinien.“
(292)

Zweifelhaftes zu Genetik

Die Aussagen Hirschfeld zur Vererbung und zu den Genen sind aus heutiger Sicht eher Anlass zu Heiterkeit, als zu Bewunderung. Verblüfft habe ich festgestellt, dass Wissen, das heute schon jeder Mittelstufenschüler hat, damals noch nicht vorhanden war und durch mehr bzw. häufiger weniger zutreffende Vermutungen ersetzt werden musste.

Der Begriff Transvestit

Wie schon erwähnt: Hirschfeld hat den Begriff erfunden! Ausgangspunkt der Namensbildung war die Analyse seiner Fälle:“Da tritt uns in allen Fällen als deutlichstes der heftige Drang entgegen, in der Kleidung desjenigen Geschlechtes zu leben, dem die Betreffenden ihrem Körperbau nach nicht angehören.“
(159)

III. Ethnologisch-historischer Teil

In diesem Teil, der immerhin die Hälfte des Buches ausmacht hat Hirschfeld rund um den Erdball und durch die Zeiten hinweg Beispiele für Geschlechtsverkleidung gesammelt und interpretiert.
Der Bogen spannt sich vom Ursprung der Kleidung bis hin zu Geschlechtsverkleidung aus pragmatischen Aspekten. Egal, ob es um Tätowierungen bei Naturvölkern oder die Frage geht, ob Kinder vor ihrer geschlechtsreife überhaupt geschlechtsunterschiedliche Kleidung tragen sollten. Hirschfeld hat Material und präsentiert es mit kritischem Blick.

Da ich nicht alle seine Themen und Hinweise hier auflisten will, gebe ich nur einige Beispiele.

Gesetz

Als Fachfrau finde ich diesen Teil natürlich besonders spannend. War es 1910 in Deutschland Männern verboten Frauenkleider zu tragen?
Die rechtlich korrekte Antwort (laut Hirschfeld, der sich wiederum auf juristische Gutachten stützt) lautet: Nein. Hirschfeld zitiert Dr. jur. Wilhelm: „Im Strafgesetzbuch existiert kein Paragraph, welcher das Anlegen von Kleidern, welche dem wahren Geschlecht nicht entsprechen, oder das Ausgehen in solchen Kleidern mit Strafe belegt. Soweit mir bekannt ist auch in keinem Bundesstaat … etwa ein unter Polizeistrafe gestelltes Verbot auf Grund allgemeiner, zur Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Ordnung, Sittlichkeit, des Anstandes usw. gegebner Polizeiblankettgesetze erlassen worden. Derartige Verbote würden hinsichtlich ihrer Zulässigkeit auch schweren Bedenken unterliegen. Demnach kann auch nur auf Grund des Paragraph 360 StGB wegen groben Unfugs eingeschritten werden. – dieser Paragraph setzt aber eine Belästigung des Publikums, eine Störung der Oeffentlichkeit voraus.“
(344) Und heute?

Gleichwohl werden einige Fälle beschrieben, in denen sich Transvestiten vor Gericht verantworten mussten und teilweise sogar (meist wegen „Groben Unfugs“) verurteilt wurden. Noch häufiger waren Fälle, in denen Polizisten vermeintliche Männer in Frauenkleidung vorläufig festnahmen. Diese peinliche Situation erlebten dem Buch zufolge( sS 347ff) auch eine relevante Zahl biologischer Frauen, die recht männlich aussahen und deshalb als verkleidete Männer angesehen wurden.
Hirschfeld berichtet aber auch, dass die Sicht der Dinge in England und den USA eine strengere gewesen ist: „In vielen Fällen haben hier die Richter die Verkleidung kurzweg als Betrug erklärt und als solchen bestaft.“ (359) Er berichtet z.B.. einen Fall aus England wo jemand nachgewiesenermaßen 9x „for masquerading as a woman“ bestraft wurde.

Zum Abschluss dieses Artikels rät Hirschfeld zur Vermeidung von Konflikten, speziell in Ländern mit entsprechenden Verboten, eine polizeiliche Erlaubnis auf Basis ärztlicher Gutachten einzuführen.

Kriminalität

Während man heute sehr sicher sein kann, dass ein in einem Krimi auftauchender Transvestit sich später auch als der verrückte und grausame Serienmörder herausstellen wird, hat Hirschfeld kräftig in Tageszeitungen geblättert.
Hirschfeld referiert zahlreiche Fälle und kategorisiert:
Fälle bei denen das Verbrechen als Anlass genommen wurde, sich zu verkleiden,
Fälle, bei denen die Geschlechtsverkleidung zur Flucht diente und
auch Fälle in denen die Polizei die Geschlechtsverkleidung nutzte, um Verbrecher zu fangen.

Der empirische Befund war nicht so, dass Transvestiten stark zu Straftaten neigen, sondern dass es halt einige Straftaten gibt zu deren Begehung ein Verkleiden hilfreich ist. Ehrlich gesagt, als Deserteur hätte ich mir auch überlegt, dass nach einer Frau wohl weniger gesucht wird.

Bühne und Literatur

Detailreich schildert Hirschfeld Dutzende von Fällen, in denen Männer als Frauen und Frauen als Männer auf der Bühne auftraten.
Dass zu Shakespeares Zeiten keine Frauen auf der Bühne geduldet wurden, sondern alle Rollen von Männern gespielt wurden, ist weithin bekannt.“Vor der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts betrat keine Frau die Bühne. Shakespeare hat die herrlichsten und zartesten seiner weiblichen Gestalten, weder Desdemona, noch Julia, noch Perdita, jemals von Frauen dargestellt gesehen; von den Heldinnen bis zu den Kammermädchen wurden alle von Männern gegeben.“
(458)

Das war aber nicht nur in England so. ähnlich war es in Frankreich, Deutschland, Italien. Und auch in anderen Kulturkreisen, speziell Japan und China werden Frauenrollen teilweise noch heute nur von Männern gespielt.

Hirschfeld kümmert sich aber auch um Frauen in Hosenrollen und die Komik, die davon profitiert, dass der als Frau verkleidete Mann immer ein Brüller ist: „Es gibt wohl kaum einen Humoristen, der sich dieses dankbaren Stoffes nicht gelegentlich bedient hat.“
(475)

Beginnend mit Grimmelshausens „Simplicissimus“ referiert Hirschfeld viele Belegstellen aus der internationalen Literatur.

Soldatinnen

Ich habe nicht gewusst, wie viele Frauen aus diversen Gründen in männlicher Verkleidung in den Krieg gezogen sind und dabei – wohl weil sie diesen Schritt gründlich überlegten und aus guten Gründen taten – auch ziemlich erfolgreich waren. Johanna von Orleans ist nur die bekannteste ihrer Art, aber definitiv kein Unikum.

Berühmte Persönlichkeiten

Quer durch die Zeiten beschreibt Hirschfeld Persönlichkeiten, die aus heutiger Sicht zumindest einen transidenten Einschlag hatten. Ich greife nur wenige heraus:

Ulrich von Lichtenstein
Er war Ritter, Minnesänger und Transvestit. Hirschfeld schildert den Fall ausführlich. Seiner Selbstbeschreibung folgend, bewog den Ritter die Liebe zu den Frauen Frauenkleider anzulegen. Er ließ sich „Königin Venus“ nennen und ritt von Venedig bis Wien. Dabei ging er in Frauenkleidern in die Kirche und besiegte (ebenfalls als Frau gekleidet) mehr als 100 Ritter im Speerkampf. Hier findest du mehr über Liechtensteins „Frauendienst“.

D’Eon
Auch Hirschfeld beschreibt (ebenso wie ich ;-)) ausführlich das Leben des Chevalier bzw. der Chevaliere. Hirschfeld stützt sich dabei stark auf die Memoiren d’Eons.

Richard Wagner
Wagner ist zwar nie als Frau irgendwo aufgetreten, doch er scheint zumindest „hochgradig verdächtig“ Die Briefe an seine Modistin, in denen er seine edlen Roben haarklein beschrieb, sind zwar kein Beweis für eine transvestitische Neigung dieses großen Komponisten, aber ein „Standardmann“ war er sicher auch nicht.

5. Weshalb ich dem Buch viele Leserinnen wünsche:

Unendlich viel Material

Das Buch ist eine Fundgrube.
Egal ob es sich um Auszüge aus literarischen Werken oder um die Forschungsergebnisse über Indianerstämme in Nordamerika handelt. Hirschfeld hat das Material gesichtet und dargestellt.

Auch geschichtliche Hineise vom klassischen Altertum bin in die Jetztzeit hinein sind zu finden. Dabei geht Hirschfeld nicht bedenkenlos jedem Gerücht auf den Leim, sondern müht sich um eine kritische Sichtweise, die Fakten von Gerüchten trennt.

Sehr schön auch seine Aufarbeitung der schönen Künste, also speziell der Literatur, wo er viele, viele Beispiele hat. sowohl Kunst von Transvestiten, als auch Kunst über Transvestiten.

Zweifel an der Dualität der Geschlechter

Schon weil ich ähnliches auf meiner Site behaupte, finde ich das Konzept der Zwischenstufen hoch interessant.
Ohne korrekte Ahnung von der Genetik der Geschlechter zu haben, beschreibt Hirschfeld die Geschlechtlichkeit als Kontinuum mit zwei Polen und nicht als zwei getrennte Kategorien. Dabei finde ich besonders bemerkenswert, dass er nicht allein auf die Körperlichkeit abstellt, sondern die innere Einstellung der Menschen ebenso wichtig nimmt wie ihren Körperbau oder ihre sexuelle Ausrichtung.“ Die Trennung der Menschheit in eine männliche und weibliche Hälfte gehört zu den Lehr- und Leitsätzen, die jedermann in Fleisch und blut übergegangen sind. auch diejenigen, die sich bemühen, Gegensätze wie Kraft und Stoff, Gott und Natur, Eins und All, Leib und Seele zu vereinheitlichen, halten an dem Dualismus der Geschlechter unerschütterlich fest und in der Tat sind auch an sich das männliche und weibliche Agens Realitäten, deren Zweiheit keinem Zweifel unterliegt. … Aber völlig verfehlt ist es, stellt man sich beide als zwei völlig von einander gesonderte Einheiten vor; im Gegenteil, die stets vorhandene Verschmelzung beider in einem, ihr unendlich variables Mischungsverhältnis, …, dieser Monismus der Geschlechter ist der Kernpunkt für Entstehung und Wesen der Persönlichkeit.“
(1f)

Deutliche Abgrenzung von anderen Phänomenen!

Die starke Koppelung des Phänomens „Transidentität“ an den Sexualtrieb ist einer meiner großen Ärgerpunkte in der aktuellen Diskussion. Und dann lese ich ein Buch dessen Verfasser schon vor 100 Jahren auf Basis der ihm vorliegenden Fälle und Informationen Transidentität als eigene Thematik herausarbeitet.

Hirschfeld leugnet nicht das Offensichtliche, dass nämlich Transidentität natürlich etwas mit der Sexualität zu tun hat. Doch er macht auch nicht den Fehler sie komplett mit sexuell motivierten Neigungen erklären zu wollen.
Allein dafür gehört ihm nach meiner Meinung ein Denkmal von allen transidenten Menschen gesetzt!

Sein Leben leben

Mich hat tief beeindruckt, in welchem Maße „Schwestern“ vor 100 Jahren ihr Leben gelebt haben. wie sie ihre Träume in einer Zeit gelebt haben, als der Graben zwischen den Geschlechtern noch viel breiter war als heute.

Kein Internet, um sich mit anderen auszutauschen, kein Fernsehen, in dem man wenigstens mal andere transidente Menschen sehen konnte, kaum Zeitungsberichte, keine Katalogversender, kein Ebay, keine Kosmetikerinnen, keine anonymen Kaufhäuser, keine tollen Makeup-Produkte, keine Hormone, kein Silikon.

Wie stark muss die Neigung in diesen Menschen gewesen sein, all diese Hindernisse zu überwinden und ihre Weiblichkeit zu leben! Die Personen haben mich mit ihrer Willenstärke und ihrem Mut sehr beeindruckt. Ich mag mir nicht vorstellen, wie ich damals zurande gekommen wäre.
Wie viel leichter haben wir es heute! Wieviel weniger Angst muss ich haben!

6. Appell

Deutsche Verlage! Wenn mich irgendwer bei euch hört:
Bitte, bitte gebt Hirschfelds „Transvestiten“ wieder eine Heimat in deutschen Bücherregalen!
Lasst euch nicht davon abhalten, dass er einige aus heutiger Sicht problematische Theorien vertrat. Er war ein Kind seiner Zeit.

Hirschfeld ist ein Klassiker! Er hat heute noch massiven Einfluss auf die Theoriebildung im anglo-amerikanischen Sprachraum.
Hirschfelds Buch ist eine Fundgrube!
Hirschfeld hat auch den deutschen Forscher/innen und Betroffenen viel zu sagen. Es kann nicht sein, dass der größte deutsche Forscher auf diesem Gebiet entweder nur in Form einiger Lesesaalexemplare oder auf Englisch verfügbar ist!

Bitte druckt dieses Buch!
Ich verspreche, ich werde euch eins abkaufen und viele andere transidente Menschen auch.
Und außerdem werdet ihr dann lobend auf meiner Site erwähnt!

Querverweis:

Anmerkung: Alle Zitate in diesem Aufsatz stammen aus: Magnus Hirschfeld, Die Transvestiten, 1. Auflage 1910

© Jula 2006

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