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Passing

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Definition

„Passing“ ist so etwas wie der heilige Gral der Transgender. Wer ein „gutes Passing“ hat, der wird von anderen beneidet oder bewundert. Kurz: Passing ist ein Schlüsselbegriff der Transgender-Gemeinde. Aber was genau ist es denn nun?

Wie so viele Begriffe und wie alle wichtigen Begriffe entpuppt sich der Begriff Passing bei näherem Hinsehen als vielschichtig.

Passing ist ein englischer Begriff und hat nicht nur zufällig große Ähnlichkeit mit dem deutschen „passieren“, bedeutet also soviel wie vorbeigehen oder auch „durchgehen“. Passing liegt vor, wenn ich als Frau „durchgehe“. Doch so einleuchtend das ist, es kann doch ganz verschiedene Ebenen betreffen. Es kann bedeuten, dass ich als Frau durchgehe, weil ich keine Aufmerksamkeit errege und deshalb niemand sich weiter um mich kümmert. Es kann aber auch so ähnlich sein, wie beim Passieren einer Personenkontrolle: ich werde genau gemustert, wahrgenommen und dann werde ich akzeptiert und man lässt mich passieren.

Im ersten Fall werde ich nicht bewusst wahrgenommen, im zweiten Fall schon und Passing hat dann mehr den Charakter von Akzeptanz.
Mit beiden Aspekten möchte ich mich gleich noch näher beschäftigen.

Warum Passing so wichtig ist

Der erste Gedanke dazu könnte sein: weil Passing so eine Art Maßstab dafür ist, wie „gut“ man ist. Je besser das Passing desto besser ist man als Transgender.

Passing könnte man als Transgender-Äquivalent für die Körpermaße bei Misswahlen betrachten. Diesen kompetetiven Aspekt, will ich nicht ganz von mir weisen, weil es allen eitlen Menschen Spaß macht sich zu vergleichen.

Aber wichtig, wirklich wichtig ist Passing aus ganz einem anderen Grund.

Und dieser Grund lautet: Passing ist Sicherheit.

Wir Transgender begeben uns mit dem was wir tun aus dem Normalbereich sozialen Verhaltens heraus, wir verletzen sittliche Normen, verstoßen gegen übliche Verhaltenserwartungen. Und wer sich unüblich verhält, gerät immer in die Gefahr dafür von der Gesellschaft in irgendeiner Form bestraft zu werden.

Hier in Europa besteht zwar keine Gefahr wegen Crossdressing mit der Staatsgewalt in Konflikt zu kommen, doch die Gesellschaft hat ihre eigenen Methoden Abweichler zu disziplinieren: Blicke, Getuschel und Gelächter sind probate Mittel. Und gerade Personen, die eher am Rand der Gesellschaft stehen, genießen es, wenn da plötzlich jemand ist, der noch weiter außerhalb zu sein scheint, den man gefahrlos demütigen kann und dafür vielleicht noch die Anerkennung einer schweigenden Mehrheit erntet. Ein Crossdresser wie ich kann der Kick des Wochenendes für eine Horde angetrunkener und gelangweilter Halbstarker sein!

Ich will keine Märtyrerin sein und ein Opfer schon gar nicht. Ein gutes Passing sorgt dafür, dass sich mein individueller Sicherheitslevel steigert. Er ist immer noch niedriger als der eines Mannes in meinem Alter. Doch er ist, wenn ich gut bin, fast so hoch wie der einer Frau meines Alters.

Unbemerkt bleiben

Um Himmels Willen nicht auffallen, von niemandem bemerkt werden, ist zunächst das Ziel, das die meisten von uns anstreben, wenn sie sich en femme in die Öffentlichkeit begeben.

Wir wollen, dass die Leute an uns vorbeigehen und sich keine weiteren Gedanken machen. Es hat schon seinen Grund, warum viele von uns ihre ersten Schritte als Frau im Freien bei schlechter Beleuchtung (Dunkelheit) gemacht haben. Wir hoffen, ob zu Recht möchte ich hier mal dahingestellt lassen, dass die schlechten Sichtverhältnisse uns dazu verhelfen, unauffällig als Frau durchzugehen. Reicher an Erfahrungen und mutiger probieren wir dann das gleiche am Tag, in belebten Straßen und Fußgängerzonen. Und dann, bei optimalen Sichtverhältnissen, hängt unser Passing von uns selbst und den Menschen um uns herum ab.

Es gibt Dinge, die können wir nicht beeinflussen. Ich z.B. bin fast 1,90 m hoch (ohne Absätze) und damit als Frau per se auffällig, weil ich die meisten Männer und fast alle Frauen sowieso deutlich überrage. Anderes kann man beeinflussen, so ist insbesondere die Wahl der Kleidung (s. Weibliche Kleidung) ein wichtiger Aspekt. Jedenfalls kann es gelingen mit ein wenig Mühe so uninteressant zu werden, dass man den allerwenigsten Passanten den zweiten Blick wert ist, den es braucht um zu erkennen, dass da eine Frau mit einem massiven Gendefekt ist.

Außerdem haben die Leute, die draußen unterwegs sind, sowieso was anderes zu tun, als weiblich gekleidete Menschen daraufhin abzuchecken, ob sie auch wirklich Frauen sind. Ja, wenn sie wüssten, dass wir da sind und etwas Ungewöhnliches zu bieten haben, würden sie schon neugierig gucken, ob sie uns in der Menge entdecken können! Doch sie wissen es nicht und widmen uns deshalb auch kein besonderes Interesse. Insofern muss man sich eigentlich schon was einfallen lassen, um in einer deutschen Fußgängerzone von den mehr oder weniger geschäftig umhereilenden Menschen bemerkt zu werden.

Bemerkt und akzeptiert werden

Unbemerkt bleiben ist nicht immer das Ziel.
Tatsächlich ist es unmöglich immer unbemerkt zu bleiben, wenn man rausgeht. In dem Moment wo wir, warum auch immer, die persönliche Aufmerksamkeit anderer Menschen beanspruchen, werden wir betrachtet, eingeschätzt und, wenn wir den Check bestanden haben, akzeptiert. Doch als was akzeptieren sie uns? Als Frauen? So hätten wir es wohl überwiegend gerne, doch zumindest wenn man so aussieht wie ich, ist dieses Ziel nur schwer erreichbar. Sollte mich das vom Ausgehen abhalten?

Auffallen als Sinn der Sache

Manchmal ist es geradezu das Ziel, bemerkt zu werden.

Eine sehr liebe Freundin von mir, die mit einer Aufmachung, die ich gerne als „Hafenhuren-Look“ bezeichne, in der Lage ist, eine Schneise in beliebige Fußgängerzonen zu schlagen, formulierte es so: „Unauffällig bin ich als Mann. Als Frau möchte ich auffallen!“ Und das geht auch für eine Trannie nicht einfach so, sondern man muss sich Mühe geben und etwas dafür tun.

Eine Dragqueen wäre ganz schön enttäuscht, wenn der ganze Aufwand den sie getrieben hat, ihr keine Aufmerksamkeit bescheren würde. Auch die lustigen Trannie-Schwestern, die mit Mieder und Petticoat auf 15 cm hohen Absätzen durch sonntäglich-verschlafene Provinzkäffer schlendern und dabei ihre langen platinblonden Mähnen zur Schau stellen, wären sicher traurig, wenn so gar keiner gucken würde.

Ich bin mir immer noch unklar darüber, ob diese Ladies der Sache der Transgender einen Bärendienst erweisen, weil sie den Eindruck erwecken, wir würden Frausein auf die Präsentation als Lustobjekt reduzieren. Oder, ob ich ihnen dankbar sein soll. Dankbar, weil sie durch ihre Auffälligkeit die Toleranz provozieren, die ich nicht in Anspruch nehme, wenn ich mauerblümchenhaft um die Ecken schleiche. Woher sollen die Leute schließlich wissen, dass es uns tatsächlich gibt, wenn wir entweder in unseren Schlafzimmern bleiben oder so unauffällig sind, dass wir nur bei näherer Betrachtung als Transgender auffallen?

Jedenfalls ist es so, dass diese Schwestern bemerkt werden und akzeptiert! Na gut, einige Leute mögen sich aufregen. Doch den allermeisten Leuten machen sie ebenso wie sich selbst eine große Freude. Die schillernde Transe mit ihrem Glitzermakeup und den endlos langen Beinen ist ein fröhlich-bunter Farbtupfer. Sie ist ein Erlebnis, das einen langweiligen Spaziergang zu etwas macht, von dem man erzählen kann. Und weil sie diesen Effekt haben, wird diesen bunten Schmetterlingen auch kaum jemand etwas tun. Sie werden akzeptiert, sicher nicht als „normale Frauen“ aber als Zauberwesen.

Im Alltag

Eine andere Sache ist es, sich alltäglich als Frau oder vielleicht sollte ich besser sagen in der sozialen Rolle einer Frau zu bewegen. Kontakte zu anderen Menschen zu knüpfen zu kommunizieren.

Dann ist es nicht damit getan zu erreichen, dass einem kein zweiter Blick geschenkt wird, sondern der zweite und viele andere mehr sind das Ziel der Aktion. Für Transsexuelle ist das eine Selbstverständlichkeit, dass sie so weit kommen müssen, dass sie in sozialen Situationen bestehen (ob nun als „Frau“ oder als „Transgender“ möchte ich an dieser Stelle noch dahinstehen lassen). Der Übergang vom unauffälligen Bummeln zum bemerkt werden wollen ist schnell geschafft. Man braucht sich bloß an eine Kaufhauskasse zu stellen und zu warten bis man dran ist. Doch so ein Sozialkontakt ist geschäftsmäßig, es geht primär um den Kauf und nicht um mich als Person.

An dieser Stelle ein kleiner Exkurs zum Thema Einkaufen und Anprobieren.

Viele von uns haben riesige Ängste davor, die Kleidung, Schuhe zu kaufen, die sie möchten. Eventuell weil sie befürchten, als Frau einer solchen Situation nicht gewachsen zu sein (Die Stimme!). Oder weil sie, was häufiger ist und als problematischer empfunden wird, als Mann unterwegs sind.

Ich habe, speziell was die zweite Situation angeht massive Ängste gehabt. Mittlerweile bin ich der festen Überzeugung: Ich kann als Mann alles kaufen und vor allem anprobieren. Meine Akzeptanz durch das Verkaufspersonal hängt nur an einem Aspekt. Hier geht es nicht um Mann oder Frau, der magische Begriff heißt „Kunde“. So war ich z.B. als Mann allein im Werksverkauf von Betty Barclay (dort gibt es keine Herrenabteilung!) und habe über eine Stunde lang nach Herzenslust alles mögliche probiert, ohne dass irgendeine der Verkaufsdamen auch nur mit der Wimper gezuckt hätte. Kunde ist Kunde, egal ob er einen Herrenanzug trägt oder eine Damenjeans.

Doch wie ist es bei längeren Sozialkontakten, wo es nicht ums Geschäft geht und man auch und gerade als Mensch abgeschätzt wird?

Ich schildere am besten erst mal zwei Beispiele, die ich erlebt habe.

Beispiel 1: Der Geburtstag

Das erste Mal, dass ich mich als Jula in eine Situation begeben habe, in der ich bemerkt werden musste und darauf vertrauen musste, dann auch akzeptiert zu werden, war anlässlich des 30 jährigen Geburtstags der Freundin einer Freundin.

Diese junge Frau hatte auch mich zu ihrer Party, die sie gemeinsam mit einer Freundin feierte, eingeladen. Wir waren drei Transgender, die mit sorgsam gewähltem Outfit schließlich auf der Party mit insgesamt ca. 30 Gästen aufliefen, wo wir nur eine der Gastgeberinnen kannten. Ich wusste genau, wie ich mich auf die erwarteten Fragen hin rechtfertigen würde. Doch das einzige, was mir das Gefühl vermittelte ungewöhnlich zu sein, war, dass ein Mann sehr dankbar schaute, als ich ihn mit Handschlag und nicht wie die Frauen mit „Küsschen rechts- Küsschen links“ begrüßte.

Ich habe viel Zeit im grellen Neonlicht der Küche verbracht und mit verschiedenen Leuten über alles mögliche geredet. Nur nicht über irgendeine der Fragen, die ich erwartet und auf die ich mich moralisch vorbereitet hatte. Mein Geschlecht oder auch nur mein Styling war definitiv kein Thema. Ich war danach sehr verwirrt, denn ich wusste und weiß immer noch nicht, für was mich die Leute auf der Party eigentlich gehalten haben.

Beispiel 2: Der Bookcrossing-Stammtisch

Bookcrossing ist eine Gemeinschaft von Bücherwürmern (dazu näher: Bookcrossing), die sich nicht damit zufrieden geben, dass Bücher harmlos im Regal stehen. Doch davon will ich gar nicht reden. Jedenfalls war und bin ich eine Bookcrosserin und ging diesem Hobby zuerst anonym nach, mit Kontakten zu anderen BC-lern nur über das Web.

Eines Tages flatterte mir eine Einladungsmail in den Postkasten. Ich wurde eingeladen, am regionalen Meetup (einem regelmäßigen Treffen, eine Art Stammtisch) teilzunehmen. Oh Klasse, das würde ich schon gerne, doch Bookcrossing ist Julas Hobby, und wenn ich da als Mann hinginge, hätte Jula plötzlich ein männliches Gesicht. Aber als Jula hingehen? In eine Runde von Leuten, die mit Transgenderthemen nix am Hut haben….ohohoh. Na, jedenfalls habe ich dann mit der Organisatorin des BC-Stammtisches mein spezielles Problem (ich würde ja gerne, traue mich aber nicht, weil….) erörtert. Im Ergebnis machte sie mir Mut einfach zu kommen. Wobei sie es für total unnötig hielt, die anderen auf mich vorzubereiten.

Kannst du dir vorstellen, wie das für mich war, als Frau zu einem Stammtisch mit Leuten zu gehen, von denen ich noch niemanden kannte? Wow, hatte ich Schmetterlinge im Bauch. Natürlich hatte ich die Situation vorher dutzendfach in Gedanken durchgespielt. Ich hatte mir einen Vorrat von tollen Erklärungen zurechtgelegt. Inclusive der Sachen, die ich von mir preisgeben, und besonders der Sachen, die ich für mich behalten wollte.

Ich betrat also die Wirtschaft. Die Organisatorin, mit der ich Mailkontakt hatte, erkannte mich sofort (s.o.:1,90 m ohne Absätze). Ich sagte zu den anderen „Hallo, ich bin Jula“….. und dann passierte ….. nichts. Also jedenfalls nichts ungewöhnliches. Die anderen, ich glaube es waren sechs Frauen und zwei Männer, nahmen mich zur Kenntnis. Sie sagten Hallo und bezogen mich in die normalen Gespräche ein. Und so ist es geblieben.

Ich gehe da jetzt regelmäßig hin. Bei verschiedenen Treffen waren unterschiedliche Leute da. Nie hat jemand mit mir über die Frage gesprochen, ob meine Kleidung und mein Chromosomensatz kompatibel sind. Die Kellnerin weiß inzwischen, welchen Wein ich am liebsten mag. Und den BC-lern ist nicht verborgen geblieben, dass ich einen kleinen Schuhtick habe. Aber über das, was ich bin oder auch nicht bin, ist nie geredet worden. Nicht in meinem Beisein, aber auch nicht so (das weiß ich von meiner Vertrauten!).

Schlussfolgerungen

In beiden Fällen ist mit in etwa das gleiche passiert. Aber was? Und was bedeutet das für das Thema „Passing“?

Diese Leute bemerkten und akzeptierten mich. Aber als was? Als Frau? Oder als Mann, der als Frau gesehen und behandelt werden möchte? Als komisch angezogener Mann? Ich habe keine Ahnung!

In dem Versuch zu ergründen, was da passiert ist, habe ich meine Frau gefragt, woran es denn liege könne, dass meine (zumindest bei näherer Betrachtung offensichtliche) Besonderheit so gar kein Thema ist. Ihre einleuchtende, wenn auch leider wenig charmante Antwort war: „Ist doch logisch. So etwas tut man nicht. Du würdest einer Frau, die eine Brustamputation hatte doch auch nicht auf den Busen starren und sie fragen, was das zu bedeuten hat.“

So ist es wohl. Kein Mensch glaubt, dass ich eine perfekte Frau bin. Doch das ist auch nicht nötig. Es reicht, dass ich so wie ich bin akzeptabel bin, vielleicht als Frau, vielleicht als Mann, der die Geschlechtergrenzen überschreitet, aber sicher als Mensch. Und das ist doch, worauf es ankommt.

© Jula 2005

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