Zum Inhalt springen

Wohin die Kugel rollt

Smilies

Wie für viele andere Transgender auch gehört es für mich einfach mit dazu, als Frau in der Öffentlichkeit unterwegs zu sein. Doch ich bin nun mal ein Mann. Nach viel Überwindung habe ich mich getraut, als Frau rauszugehen. Meine große Angst war nämlich, dass ich draußen als „verkleideter Mann“ Aufmerksamkeit errege. Doch zu meiner Überraschung geschieht das nur in sehr geringem Umfang. Und sogar Menschen, die mich als Mann kennen, gehen an mir als Frau achtlos vorüber. Wie kommt das?

Ist dir schon mal aufgefallen, dass du auf der Straße nicht allgemein Menschen, sondern entweder Männer oder Frauen siehst?
Na klar, sagst du, weil Menschen nun mal entweder Frauen oder Männer sind! Es gibt in unserer Welt keine „Neutren“. In unserer Welt gibt es scheinbar eine klare Differenzierung. Jemand ist entweder Mann oder Frau.

Nein, warte einen Moment bevor du das zu einer Selbstverständlichkeit erklärst. Ich finde das gar nicht so selbstverständlich … und das liegt nicht nur daran, dass ich zwischen den beiden Welten wandere. „Alle Wahrnehmung ist Symbol für erwartbare Realität.“

Die Münze bleibt nur sehr, sehr selten auf der Kante stehen

Ist die Differenzierung zwischen männlich und weiblich wirklich so eindeutig?

Die primären Geschlechtsorgane und den unterschiedlichen Chromosomensatz, die sicher eindeutig anders sind, können wir außen vor lassen. Sie spielen,so wichtig sie sind, für die Zuordnung zu einem Geschlecht im Alltagsleben keine Rolle. Die geschieht allein nach der „Erscheinung“. Und da sind die wahrnehmbaren Unterschiede zwischen den Geschlechtern lediglich graduell und nicht kategoriell. Männer und Frauen haben gleichermaßen Arme, Beine, Augen, Münder und Haare. Wenn ich bloß ein Bein, eine Hand oder auch ein Auge oder einen Mund sehe, dann ist es schwer, dieses Detail eindeutig als männlich oder weiblich zu identifizieren. Wenn ich nicht weitere Hinweise dazunehme, wie z.B. eventuelle Behaarung oder kosmetische Optimierungen, dann kann ich nur vermuten. Die Übergänge sind fließend, es gibt männlich wirkende Frauen und Männer mit einer femininen Figur.

Grafik
© Jula Böge

Keine Frau (und auch kein Mann) entspricht dem Prototyp. Frauen tragen nicht unbedingt Röcke, haben nicht unbedingt einen großen Busen oder lange Haare. Sie bewegen sich auch nicht unbedingt immer erkennbar feminin. Und selbst die Stimmlage ist nicht immer erkennbar höher als bei Männern. Trotzdem zweifeln wir im Alltag nie (oder zumindest fast nie). Jemand biegt um die Ecke und wir sehen: eine Frau! Ohne Überlegung, ohne Zögern. Es gibt in der Wahrnehmung kein „Unentschieden“, selten ein „Vielleicht“, fast immer ein blitzschnelles „So ist es“.

Es ist wie mit einer geworfenen Münze, die Kopf oder Zahl zeigt, aber nicht auf der Kante stehen bleibt. Oder auch wie mit einer Kugel, die auf einem Hügel liegt. Sie rollt immer in die eine oder andere Richtung und bleibt selten oben auf der Spitze liegen.

Grafik Wahrnehmung
Die Kugel bleibt nicht oben liegen!
© Jula Böge

Also, was ich meine: wir erkennen, wenn wir einen Menschen sehen in ihm praktisch immer blitzartig den Mann oder die Frau. Das funktioniert übrigens auch dann, wenn wir nur wenig Informationen haben.

Z.B., wenn sich ein Mensch aus ganz weiter Ferne langsam nähert. Wir sehen nicht erst bloß einen Menschen und dann erst Mann oder Frau, sondern wir sehen jemanden und unser Gehirn klickt ganz schnell auf „Mann“ oder „Frau“. Und nur sehr selten müssen wir diesen ersten Eindruck revidieren.
Oder wir sehen nur eine Silhouette oder einen kleinen Ausschnitt auf einem Bild. Wir denken nur in extremen Fällen „Mensch“, sondern schließen auch aus minimalen Anhaltspunkten auf „Mann“ oder „Frau“. Ein schönes Beispiel liefert dieses Video.

Offensichtlich ist es nicht bloß das, was man zu sehen kriegt, sondern es passiert auch etwas in unseren Köpfen. Aber was? Und kann mir das Wissen darüber als Transgender eventuell nützlich sein?

Etwas theoretischer Hintergrund

Die Wahrheit wird nicht von uns entdeckt, sondern erschaffen.

Antoine de Saint-Exupery

Die Frage, was in unserem Kopf passiert, wenn wir unsere Umwelt wahrnehmen, wurde von Philosophen und Psychologen untersucht. Unsere Wahrnehmung bildet nicht objektiv die „Realität“ ab, sondern die Fülle der auf uns einströmenden Sinneseindrücke wird gefiltert und interpretiert: wir nehmen immer subjektiv wahr.

Man muss nicht gleich dem radikalen philosophischen Konzept Berkeleys folgen, demzufolge es gar keine Realität gibt, wenn sie nicht wahrgenommen wird („esse est percipi“). Aber man kann sich an den moderneren Theorien orientieren, die beispielsweise durch Paul Watzlawick repräsentiert werden und mit dem Begriff „Konstruktivismus“ beschrieben werden.

Wie man an die Wirklichkeit herangeht, ist für das ausschlaggebend, was man finden kann. Und das ist natürlich keine ganz neue Idee. Kant und Hume und andere haben das ja schon lange Zelt vor uns gesagt, aber die Einsicht ringt sich nun doch weiter und weiter durch, dass es sich um eine sehr bedeutsame Erkenntnis handelt. Das heißt, dass wir im buchstäblichen Sinne unsere Wirklichkeiten konstruieren.

Paul Watzlawick, Die Unsicherheit unserer Wirklichkeit (1982), Seite 9

Alles klar? Wir konstruieren unsere Wirklichkeit und dementsprechend bestimmt unser Denken auch unsere Wahrnehmung. Wenn wir also „wissen“, dass Menschen entweder Mann oder Frau sein müssen, dann sehen wir auch nur Frauen oder Männer und keine seltsamen Zwischenformen.

Im normalen Leben bin ich ein Mann und werde auch als solcher wahrgenommen. Da gibt es keine Zweifel. Obwohl es Grund gäbe, das eine oder andere seltsam oder vielleicht auch feminin zu finden, ist meine Männlichkeit evident. So sehr dass die Informationshäppchen, die Beobachtenden eigentlich die Interpretation „weiblich“ nahelegen müssten, durch den überwiegend männlichen Gesamteindruck unterdrückt werden.

Die Kugel rollt immer auf die männliche Seite. Selbst dann, wenn ich mir eine Menge erlaube: Lackierte Finger- oder Fußnägel, rabiater Kahlschlag der Körperbehaarung, Frauenpullover, Frauenhose, Frauenstrümpfe … Es ist nicht nur so, dass der Gesamteindruck trotz allem männlich bleibt. Es ist sogar so, dass die weiblichen Accessoires nicht mal als solche wahrgenommen oder interpretiert werden.

Grafik Wahrnehmung
© Jula Böge

Und wenn sie wahrgenommen würden, dann würde ich nicht als „weiblich“ oder auch nur als „neutral“ eingestuft werden, sondern als Mann der unpassende Kleidung trägt oder sich lächerlich zurechtgemacht hat. Wenn ich (ohne weiteres „Zubehör“) ein nettes Kleid anziehen würde und durch die Straßen ginge, dann würde mich sicher niemand für eine Frau halten. Meine Kugel rollt immer wieder zurück auf die männliche Seite.

Die Kugel über die Kuppe bringen

Das klingt nach einem echten Problem, oder?
Ich muss so viel tun, dass die Kugel die Kuppe des Berges hinter sich lässt. Da gibt es einiges zu korrigieren und zu vertuschen, denn ich habe körperliche Unzulänglichkeiten, die verhindern, dass ich jemals eine perfekte Frau sein kann. Aber wenn ich über die Kuppe bin, dann rollt die Kugel plötzlich auf die andere Seite. Die (meisten) Menschen sehen eine Frau. Wohl keine besonders attraktive, sicher eine sehr große, aber eine (immerhin!) Frau.

Grafik Wahrnehmung
© Jula Böge

Nach meiner Erfahrung brauche ich drei Dinge, um „meine Kugel über den Berg zu bringen“. Aber dann klappt es auch tatsächlich: Makeup, Frisur und na ja ein wenig Busen als zusätzlicher Hinweis ist auch nicht schlecht. Wenn diese drei Aspekte meiner Erscheinung weiblich sind, dann kippt das Bild für die weit überwiegende Zahl der Menschen (nicht für alle, leider). Plötzlich werden alle Aspekte, die vorher noch unproblematisch als männlich interpretiert wurden, genauso unproblematisch als weiblich interpretiert. Ich bin über den Berg!
Zwar werden wohl immer noch Auffälligkeiten wahrgenommen. Meine Größe muss einfach auffallen, da es so viele Frauen mit meiner Länge nicht gibt, aber eben immerhin noch ein paar. Doch lösen sie bei den allermeisten Menschen keine großen Zweifel aus.

Wenn ich nun versuche, genau zu sagen, was denn genau den Eindruck zum kippen bringt, dann ist es das Gesicht. Beim Blick in das Gesicht entscheidet sich, ob wir unsere verschiedenen Eindrücke in Richtung Mann oder Frau interpretieren und die Kugel dann in diese Richtung rollt. Sicherlich ist das Gesicht der Teil des Körpers (von den Geschlechtsorganen abgesehen) bei dem sich die Geschlechter am stärksten unterscheiden. Dabei gilt auch für diesen Teil wieder das, was auch für den Gesamteindruck gilt: das Gesehene wird nicht ambivalent interpretiert, sondern in die eine oder andere Richtung.

Wiederum ist es eine Kombination von verschiedenen, gar nicht mal dramatisch unterschiedlichen Aspekten. Augen, Mund und Nase sind bei Männern nicht unterschiedlich groß oder geformt. Trotzdem erkennen wir ein Männer- oder Frauengesicht sofort als solches. Gesichtsform, Augenbrauen und Behaarung prägen hier sehr stark den Eindruck. Wenn wir hier ein wenig (ähem, oder in meinem Fall ein wenig mehr) arbeiten und dann noch eine weiblich wirkende Frisur hinzukommt, rollt die Kugel plötzlich auf die andere Seite.

Grafik Wahrnehmung
© Jula Böge

Bei mir (und anderen, die ich kenne) ist der Moment, in dem der Eindruck kippt, recht gut zu diagnostizieren. Es ist der Moment, in dem ich die Perücke auf den Kopf setze. Wohlgemerkt, es geht dabei nicht um die Perücke, denn sie allein würde nichts bewirken. Die Perücke ist nur der Schlusspunkt. Der letzte Schubs, der die Kugel über die Kuppe bringt. Plötzlich ist da ein anderer Mensch. Alle Details vorher haben nicht ausgereicht, mehr als einen weiblich gestylten Mann aus mir zu machen. Doch mit dieser letzten Veränderung kippt das Bild und ich sehe weiblich aus. Na gut, zumindest weiblich genug um von den meisten Leuten nicht für bemerkenswert gehalten zu werden.

Du kennst den Effekt sicher auch (wenn nicht sowieso von dir selbst) von der Demaskerade von Travestiestars. Mary (= Georg Preuße) hat das in ihrer Bühnenshow perfektioniert. Die ganze Zeit über sieht man da eine Frau. Obwohl man doch weiß, dass es eigentlich ein Mann ist, und ist vergeblich bemüht, den Mann zu erkennen. Doch dann kommt das Ende der Show. Mary nimmt die Perücke ab und plötzlich sieht jeder: ein Mann, eindeutig „Georg“ und nicht „Mary“.

Okay, soweit die Erläuterung. Aber was ist jetzt der Nutzen davon?

Meine Schlussfolgerungen

Smilies
© Jula Böge

1. Du musst nicht perfekt sein, um als Frau akzeptiert werden zu können!

Ich bin es selbst bei weitem nicht … und auch die meisten Frauen, die wir sehen sind nicht perfekt. Es genügt, wenn du es schaffst einen überwiegend femininen Eindruck zu vermitteln. Kaum ist die Kugel über die Spitze des Berges rollt die Kugel ganz automatisch in die Schale „weiblich“ und du wirst als Frau gesehen und behandelt und deine fehlende Perfektion wird höflich übersehen.

2. Zwischen deiner männlichen und weiblichen Version liegen Welten!

Wenn die Kugel auf die andere Seite gerollt ist, werden nicht nur andere Aspekte an dir wahrgenommen. Auch die gleichen Aspekte werden anders interpretiert, noch bevor sie das bewusste Denken übernimmt. Die Gefahr, dass jemand, der nicht durch irgendeinen Zusammenhang (z.B. jemand in deiner Begleitung, den die beobachtende Person kennt) darauf gebracht wird, wird es schwer haben, in der unbekannten Frau, die er sieht, den Mann zu identifizieren, den er kennt.

3. Es kommt auf die Kleinigkeiten an!

Die Summe der Eindrücke bzw. Details macht das Bild. Das schicke Kleid ist genauso bloß ein Eindruck wie der behaarte Handrücken. Vielleicht wirken die unterbewussten Eindrücke bei der Interpretation sogar noch intensiver, weil sie nicht vom Bewusstsein auf „Vernunft“ geprüft werden können. Einzelne noch so weibliche Highlights bringen nichts zum Kippen, sondern wirken, wenn der Rest nicht stimmt, einfach bloß deplaziert.

4. Fotos sind entweder genial oder grausam!

Je nach dem, ob man es auf den Fotos geschafft hat, die Kugel genügend weit nach „rechts“ zu bringen, sieht man entweder eindeutig eine Frau, die sogar recht attraktiv ist, oder einen Mann, der sich verkleidet hat. Da es bei Photos keine Möglichkeit gibt, über sie hinaus Informationen einzuholen ist der interpretierende Verstand auf begrenzte Infos reduziert. Das führt dazu, das wir auf recht ähnlichen, fast zeitgleich aufgenommenen Bildern total unterschiedlich wirken können, wenn die Kugel eben sehr nahe der Kuppe liegt. Dann genügt schon eine leicht veränderte Kopfhaltung für einen völlig anderen Gesamteindruck.

5. Du selbst hast es am schwersten, die Frau in dir zu sehen!

Gemeinerweise sehe ich, auch wenn meine Mühen für viele andere erfolgreich waren, immer noch sehr stark den Mann. Ich sehe mich nämlich nicht neutral, sondern kritisch und misstrauisch. Und ich weiß ja auch, dass ich im normalen Leben auch unproblematisch sofort und eindeutig für einen Mann gehalten werde. Alle anderen aber haben diese Vorprägung nicht und so interpretiert ihr Gehirn unvoreingenommen, was an Sinneseindrücken bei ihm ankommt. Folglich sehen andere leichter und deutlicher als ich selbst, was sie sollen: eine Frau.

© Jula 2004

Ein Gedanke zu „Wohin die Kugel rollt“

  1. Liebe Jula,
    Dein Artikel über das, was heute neust als „passing“ bezeichnet wird, war für mich ein Augenöffner. Er bringt Klarheit in dieses komplexe Thema, benennt die wichtigen Aspekte und Mechanismen, die am Werk sind. Vorher war das Thema für mich deutlich schwieriger anzugehen, da mir diese Klarheit bei der Gewichtung bzw. dem Zusammenwirken der verschiedenen Aspekte (Schminken, Haare, Gang, Stimme etc.) fehlte.

    Herzlichen Dank für diesen sehr aufschlussreichen Artikel.

    Liebe Grüße,
    Heidrun

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.