In Alltagstest Teil 1 habe ich mich mit den Fakten zum Alltagstest und dem daraus folgenden, zynischen Umgang mit den Betroffenen beschäftigt.
Aus der zentralen Rolle des Alltagstests in den Begutachtungs- und Behandlungsleitlinien lässt sich (wenn ich die negativen Emotionen verdränge) eine Menge über Geschlecht und seine Beziehung zu Gender lernen.
Gender ist etwas anderes als Geschlecht
Ich habe immer nach einem guten Beispiel gesucht, das den Unterschied zwischen Geschlecht und Gender klarmacht. Der Alltagstest ist es. Der Alltagstest ist die Bestätigung, falls es denn eine braucht, dass es Gender als eigene Kategorie gibt. Hier sind es nicht die Sozialwissenschaftler*innen, deren konstruktivistische Denkweise sie immer etwas verdächtig macht, sondern diejenigen, denen zweifelsfrei die Kompetenz über das menschliche Geschlecht zuerkannt wird.
Deutlicher kann man fast gar nicht zwischen Geschlecht und Gender unterscheiden! Die Krankenkassen sehen es so: Das Geschlecht kriegst du erst, wenn du das Gender bereits hast!
Gender und Geschlecht sind nicht gekoppelt
Ich soll ein Gender leben und die zugehörigen körperlichen Merkmale werden mir vorenthalten. Krasser noch: ich muss das Gender leben, damit ich die Geschlechtsmerkmale bekommen kann. Gender wird hier klar von den körperlichen Aspekten des Geschlechts (primäre und sekundäre Geschlechtsmerkmale, Hormonstatus) separiert.
Anders wäre es gar nicht möglich, dass die Richtlinien anordnen, dass das Gender ohne irgendwelchen körperlichen Rückenwind gelebt werden muss. Das bedeutet, dass es auch möglich sein muss.
Gender ist wichtiger als Geschlecht
Die Richtlinie geht davon aus, dass die Lebbarkeit im Zentrum steht. Damit stellt sie die Genderpräsentation über alles andere. Das ist aus meiner Sicht sogar richtig. Was nutzt mir die schönste Vagina, wenn mich alle für einen Mann halten?
Gender ist das, worum sich alles dreht! Tatsächlich ist der Alltagstest eine deutliche Bekundung, dass es im täglichen Leben nicht entscheidend ist, welche Chromosomen oder Geschlechtsorgane ich habe. Ob ich Mann oder Frau bin, hängt davon ab, ob ich die Geschlechtsrolle in der Gesellschaft so darstellen, dass sie mir von meinen Mitmenschen zugestanden wird.
Der Alltagstest bringt die Festlegung mit sich, dass die körperlichen Merkmale nicht das wichtigste sind, sondern die glaubhafte Darstellung der Geschlechtsrolle, des Gender.
Offensichtlich sind die Expert*innen davon überzeugt, dass der Beweis der tatsächlichen Zugehörigkeit zu einem Geschlecht durch die Lebbarkeit eines Gender erbracht werden kann und muss. Weil dabei die Rahmenbedingung ist, dass die allgemein für essentiell gehaltenen körperlichen Rahmenbedingungen gerade nicht gegeben sind, bedeutet das, dass das (körperliche) Geschlecht zumindest aus Sicht der Gesellschaft nachrangig ist. Aus Sicht des Individuums sieht das nochmal anders aus, doch das ist hier nicht mein Thema.
Resümee
Unter der restriktiven Sicht und der Betonung der „Lebbarkeit“ steckt gedanklich eine starke Fokussierung auf Gender. Die herkömmliche Sicht, dass Gender, wenn es so etwas überhaupt gibt, nicht mehr als ein Schatten des körperlichen Geschlechts ist, wird durch den Alltagstest ad absurdum geführt. Das Gender wird sogar zur unverzichtbaren Voraussetzung für das Erlangen körperlicher Geschlechtsmerkmale gemacht.
Auch wenn das Verständnis des Verhältnisses von Geschlecht zu Gender durchaus modern ist. Der Umgang mit den Betroffenen durch die Krankenversicherungen ist brutal und zynisch.
Es ist eine Sache, ob ich mir zutraue, auch ohne körperliche Anpassungen im Gender meiner Identität zu bestehen. Aber es ist eine ganz andere, wenn das von mir verlangt wird, obwohl ich es mir wegen meiner körperlichen Situation nicht zutraue.
Querverbindungen
© Jula Böge 2020