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Judith Butler: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen 

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Butler - Die Macht der Geschlechternormen

englisches Original: Undoing Gender 

Anhand dieser Aufsatzsammlung von 2004 möchte ich ein paar Grundzüge der Gedanken von Butler vorstellen. Im Kern geht es dabei um das Verhältnis von Gender und Sexualität und Geschlecht. Und es geht um die Wirkung von sozialen Normen auf die Individuen und die Gesellschaft.

Butler vertritt eine ethisch-humanistische Position. Sie macht sich Gedanken darüber, was soziale Normen Personen aufbürden, deren Biologie (psychisch/physisch) nicht dazu passt. Butler stellt nicht in Frage, dass die Normen so sind, wie sie sind. Aber sie fragt, ob es ethisch richtig ist, dass sie so sind und ob und wie man sie für eine menschliche Gesellschaft verändern kann.

Was ist Gender?

Es geht um zwei verschiedene Dimensionen:
– Körper und Norm (Biologie und Kultur)
– Individuum und Gesellschaft
Diese treten miteinander in Wechselwirkung und erzeugen Gender.

Grundsätzlich ist Gender etwas Kulturelles. Es handelt sich dabei um einen Satz von sozialen Normen. Also um Sollenssätze bzw. Handlungsanweisungen oder Verhaltensmaßregeln für die Mitglieder der Gesellschaft. Die Individuen schulden normkonformes Verhalten. Die Gesellschaft kontrolliert sozial die Einhaltung und sanktioniert (belohnen, ignorieren, bestrafen) Verstöße.

Gender ist der Mechanismus, durch den Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit produziert und naturalisiert werden.

Das Erzeugen von Gender ist ein komplexes System, ein kybernetischer Regelkreis:
Die Zuschreibung von Weiblichkeit zu weiblichen Körpern, so als ob diese eine natürliche oder notwendige Eigenschaft wäre, findet in einem normativen Rahmen statt, in dem die Zuordnung von Weiblichkeit zu weiblicher Anatomie ein Mechanismus zur Erzeugung von Gender ist.

Gender ist weder genau das, was man “ist”, noch das, was man “hat”. Gender ist der Apparat, durch den die Produktion und Normalisierung des Männlichen und des Weiblichen vonstatten geht – zusammen mit den ineinander verschränkten hormonellen, chromosomalen, psychischen und performativen Formen, die Gender voraussetzt und annimmt.

Wenn die Körpermerkmale das Geschlecht “anzeigen”, dann ist das biologische Geschlecht nicht ganz das gleiche wie die Mittel, mit denen es angezeigt wird das (biologische) Geschlecht wird durch die Zeichen, die anzeigen, wie es gelesen oder verstanden werden soll, verständlich gemacht. Diese körperlichen Indikatoren sind die kulturellen Mittel, mit deren Hilfe der sexuierte Körper gelesen wird. Sie sind körperlich, und sie funktionieren wie Zeichen, so dass es keine einfache Methode gibt, zwischen dem zu unterscheiden, was am sexuierten Körper echt “materiell” und was echt “kulturell” ist.

Sie stehen jedoch nur am Anfang eines Prozesses verschiedener Wechselwirkungen. Denn die Gendernormen und die sich aus ihnen ergebenden Anforderungen und Erwartungen an die Individuen verändern diese. Psychisch und auch körperlich. 

Das Spezielle an den Gendernormen ist, dass wir sie sehr weitgehend nicht als kulturelle Sollenssätze erkennen. Sie erscheinen als selbstverständlich bzw. natürlich oder biologisch. Bei anderen Normen, wie z.B. dem Rechtsfahrgebot in der Straßenverkehrsordnung, wissen wir unmittelbar, dass sie menschengemacht sind und auch anders sein könnten (Linksverkehr!).Bei Gender ist das anders. Es scheint nicht etwas von Menschen Gemachtes zu sein, sondern als “Natur” oder “Wahrheit”.

Unsere Gesellschaft setzt voraus, dass alle Personen ihr zum körperlichen Geschlecht passendes Gender internalisiert haben. Und dass sie sich nicht bloß selbstbewusst, ohne darüber nachdenken zu müssen, genderkonform verhalten, sondern dies auch gerne tun und gar nicht anders wünschen. Das macht Gender-nonkonformes Verhalten besonders problematisch, weil es nicht bloß ein Regelverstoß ist, sondern widernatürlich.

Wenn die Natur so einfach wäre, wie das Modell von Gender, dann wäre alles gut. So ist es aber nicht. Ausgangspunkt des Ärgers ist die Situation, dass es auf der kulturellen Seite eine Gendernormierung gibt. Die geht von zwei klar und eindeutig getrennten Kategorien aus: Männer und Frauen. Und auf der Seite der Natur gibt es eine wilde Vielfalt von einzelnen Individuen, die mehr oder weniger gut in die Kategorien passen. Zwar negiert das kulturelle Modell die Vielfalt, aber es gibt sie nun einmal trotzdem. Damit muss man irgendwie umgehen. 

Ist Gender eine schlichte Folge der Geschlechterdifferenz?

Die Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten. Ein wenig ist das hier ein Henne-Ei-Thema. Gibt es die Unterschiede zwischen den Geschlechtern, weil es die Gendernormen gibt. Oder gibt es die Gendernormen, weil die Geschlechterdifferenzen sie notwendig hervorgebracht haben?

Butler entschließt sich zu einem “Sowohl-als auch”:
Geschlechterdifferenz ist weder gänzlich gegeben noch gänzlich konstruiert, sondern beides zu Teilen.
Das große Problem ist die ständige “Schwierigkeit zu bestimmen, wo das Biologische, das Psychische, das Diskursive, das Soziale anfangen und aufhören.

Damit sind auch die Gendernormen in einer Grauzone zwischen Kultur und Biologie angesiedelt. Diese Position ist etwas anderes, als das was Kritiker*innen Butler häufig unterstellen. Die stellen sie häufig in die Ecke „alles Kultur!“. Ihr wird eine Leugnung oder zumindest Geringschätzung der Biologie unterstellt, die ich in ihren Texten jedoch nicht finde.

Wie wirkt Gender?

Die vorhandene Gendernorm wirkt gleichermaßen auf das Individuum und auf die Gesellschaft. Das Individuum findet nur in der Gendernorm bzw. in ihr die Worte, um von sich zu sprechen. Die Gesellschaft versucht, die Normen kraft ihrer Macht durchzusetzen und Verstöße gegen die Normen möglichst zum Verschwinden zu bringen. 

Die Norm ist ein Maß und ein Mittel, um einen gemeinsamen Standard hervorzubringen.

Regulierung der Individuen

Folgen wir der oben dargelegten Vorstellung von Normen, dann könnten wir sagen, dass der Realitätsbereich, der durch Gender-Normen hervorgebracht wird, den Hintergrund dafür bildet, dass Gender in seiner idealisierten Dimension auf der Bildfläche erscheint.

Die Individuen werden einer abstrakten Gemeinsamkeit unterworfen. Mehr noch: ohne das Modell hätten wir gar keine Begriffe für uns selbst!

Unsere Selbstbeschreibung findet “in einer Sprache statt, die bereits in Gebrauch ist, die schon von Normen gesättigt ist und die uns beeinflusst, wenn wir versuchen, über uns zu sprechen.

Infolgedessen ist das “Ich”, das ich bin, zugleich durch die Normen geschaffen und von den Normen abhängig…

Ich kann nicht von mir als Frau sprechen, mich nicht als Frau definieren, wenn es die Kategorie “Frau” nicht schon vorher gibt. Und ich muss das, was gesellschaftlich mit der Kategorie verbunden wird, für mich akzeptieren und richtig finden. Vielleicht nicht alles, aber doch wesentliche Teile. 

Die Bedingungen, die das eigene Gender kreieren, liegen jedoch von Anfang an außerhalb meiner selbst, Wurzeln außerhalb meiner selbst in einer Sozialität, die keinen einzelnen Urheber kennt.

Man bestimmt die “eigene” Bedeutung von Gender nur in dem Maß, wie soziale Normen existieren, die diese Handlung, ein Gender für sich zu beanspruchen, unterstützen und ermöglichen. Man ist auf diese “Außenwelt” angewiesen, um Anspruch auf das erheben zu können, was einem gehört.

Als Frau oder als Mann in der Gesellschaft zu leben, bedeutet mehr, als nur weiblich oder männlich angesprochen zu werden. Es bedeutet, mit diversen Erwartungen in Bezug auf Aussehen und Verhalten konfrontiert zu werden, die man zu erfüllen hat. 

Ein wesentlicher und wichtiger Aspekt (das ist jetzt nicht Butler) dabei ist, dass die beiden Gender sich aufeinander beziehen und voneinander abgrenzen.
Frau zu sein, bedeutet eben NICHT Mann zu sein und umgekehrt. Einer Kategorie anzugehören, schließt die Mitgliedschaft im anderen Team aus. Mit der Nebenfolge zwangsläufiger Unterschiede. Mann und Frau müssen verschieden, ja eventuell in manchen Aspekten sogar gegensätzlich sein, damit die Kategorien funktionieren. In der Folge werden Unterschiede hervorgehoben und Gemeinsamkeiten, nun vielleicht nicht aktiv unterdrückt, aber doch übersehen bzw. für nicht relevant erachtet.

Ohne ein Modell von Gender kann ich mich selbst also überhaupt nicht als Mann oder Frau definieren. Das bedeutet aber auch, dass die Grenzen des Modells festlegen, wer oder wie ich überhaupt sein kann:
Wer kann ich werden in einer Welt, in der die Bedeutungen und Grenzen des Subjektes im voraus für mich festgelegt sind? Durch welche Normen werde ich zwangsweise bestimmt, wenn ich frage, was ich werden kann? Und was geschieht, wenn ich etwas zu werden beginne, was im gegebenen Wahrheitsregime nicht vorgesehen ist?

Anerkennung ist lebensnotwendig

An dieser Stelle kommt bei Butler der Begriff der Anerkennung ins Spiel. Als soziale Wesen sind wir auf die gesellschaftliche Anerkennung angewiesen. Wir brauchen für das, was und wie wir sind, die Anerkennung anderer. Ein moderner Begriff dafür ist Respekt. Wir sind darauf angewiesen, dass uns unsere Mitmenschen respektieren.

Ob eine Person anerkannt wird bzw. werden kann, liegt an den Normen.
Wenn wir nicht anerkannt werden können, wenn es keine Normen der Anerkennung gibt, durch die wir anerkannt werden können, dann ist es nicht möglich, im eigenen Sein zu beharren, und wir sind keine möglichen Wesen: wir sind von der Möglichkeit ausgeschlossen.

Butler argumentiert, dass Selbstbestimmung und Gendervielfalt kein Luxus sind, sondern für diejenigen, die nicht in das Raster der Norm passen, weil sie nun mal anders sind, eine Lebensnotwendigkeit.
So wie ein Leben, für das keine Kategorien der Anerkennung existieren, kein lebenswertes Leben ist, so ist ein Leben, für das diese Kategorien einen nicht bewältigbaren Zwang darstellen, keine annehmbare Option.

Der Gedanke an ein mögliches Leben ist nur für diejenigen Luxus, die schon von sich wissen, dass sie möglich sind. Für diejenigen, die noch darauf warten, möglich zu werden, ist die Möglichkeit eine Notwendigkeit.

Manche haben mich gefragt, was denn der Nutzen wachsender Möglichkeiten für Gender ist. Ich neige zu der Antwort: Möglichkeit ist kein Luxus, sie ist genauso wichtig wie Brot. Ich meine, wir sollten nicht unterschätzen, was der Gedanke des Möglichen für diejenigen leistet, für die das Überleben die dringendste Frage ist.

In diesem Sinne hängen unser Leben und die Beständigkeit unseres Begehrens davon ab, dass es Normen der Anerkennung gibt, die unsere Lebensfähigkeit als Menschen erzeugen und aufrechterhalten.

Die Frage, wie jemand die Norm verkörpert, ist deshalb sehr oft mit der Frage nach dem Überleben verbunden, damit, ob das Leben selbst möglich sein wird. Ich denke, wir sollten nicht unterschätzen, was der Gedanke an das Mögliche für diejenigen leistet, die das Überleben selbst als ein akutes Problem erleben.

Der Körper als Schnittstelle zwischen Individuum und Gesellschaft

Aufgrund der bestehenden Gendernormen ist die Anerkennung als Mann oder Frau mit dem Körper verknüpft. Es genügt nicht, dass ich mich in bestimmter Weise verhalte. Dazu muss ich auch noch entsprechend aussehen und eigentlich auch den richtigen Körper mit den richtigen Geschlechtsteilen haben, auch wenn sie im täglichen Leben kaum jemand sieht.

Der Körper hat unweigerlich eine öffentliche Dimension; als ein in der Öffentlichkeit geschaffenes soziales Phänomen gehört mir mein Körper und gehört mir auch wiederum nicht. Als Körper, der von Anfang an der Welt der anderen anvertraut ist, trägt er ihren Abdruck, wird im Schmelztiegel des sozialen Lebens geformt und ist erst viel später das, worauf ich mit einiger Unsicherheit Anspruch erhebe als mein eigener Körper.

Gleichwohl ist es der Körper, über den Gender und Sexualität anderen Menschen offengelegt werden, in soziale Prozesse einbezogen werden, vermittelst kultureller Normen eingeschrieben werden und in ihren sozialen Bedeutungen erfasst werden. In einem gewissen Sinne bedeutet ein Körper zu sein, anderen ausgeliefert zu sein, selbst wenn ein Körper empathisch gesprochen “der eigene” ist, dasjenige, für das wir Rechte der Autonomie beanspruchen müssen. Dies gilt für die Forderungen von Lesben, Schwulen und Bisexuellen nach sexueller Freiheit ebenso wie für die Forderungen von Transsexuellen und Transgendern nach Selbstbestimmung und für die Forderungen von Intersexen, vom Zwang medizinischer, chirurgischer und psychiatrischer Eingriffe befreit zu sein,…

Die Körper müssen nach wie vor als ausgeliefert verstanden werden. Zum Verständnis der Unterdrückung von Menschenleben gehört es gerade zu begreifen, dass es keine Möglichkeit gibt, diese Bedingung einer primären Verletzbarkeit Weg zu diskutieren, dieses Ausgeliefertsein an die Berührung durch den anderen, selbst wenn oder gerade dann, wenn kein anderer da ist und unser Leben keine Unterstützung erfährt.

Die besondere Sozialität, die zum körperlichen Leben, zum sexuellen Leben und zur Ausformung eines Genders gehört (ein Gender, das stets in einem gewissen Maße für andere gebildet wird), begründet ein Feld der ethischen Verstrickung mit anderen und ein Gefühl der Orientierungslosigkeit für die erste Person, das heißt die Perspektive des Egos. als Körper sind wir immer auf etwas mehr und auf anderes aus als uns selbst.

Durchsetzung der Norm in der Gesellschaft

Eine wichtige Bedeutung von Regulierung besteht folglich darin, dass Personen durch Gender reguliert werden und diese Form der Regulierung als Bedingung für die kulturelle Intelligibilität einer jeden Person funktioniert.

Die Gendernormen legen fest, wen die Gesellschaft als Mann oder Frau anerkennt , und vor allem auch: wen nicht! Wenn es Personen nicht möglich ist, anerkannt zu werden, dann gibt es in der Gesellschaft auch keinen Platz für sie. In der Sprache Butlers haben sie dann keine Intelligibilität, sie sind als Menschen nicht möglich.

Wenn es nun die Situation gibt, dass Personen und die sie regulierenden Normen nicht zusammenpassen, gibt es einen Konflikt und zwei Möglichkeiten diesen aufzulösen:
Entweder (und das ist der Weg, der bisher gesellschaftlich gegangen wurde) man passt die Individuen an die Normen an. Oder man passt die Gendernormen so an, dass auch bisher ausgeschlossene Personen “möglich” werden.

Wie ist die Anpassung der Individuen bisher gelaufen?

Die sozialen Strafen für Verstöße gegen die Geschlechternormen umfassen die operative Herrichtung von Intersex-Individuen in vielen Ländern, …, die medizinische und psychiatrische Pathologisierung und Kriminalisierung von Menschen mit einer “Gender-Dysphorie”, die Schikanierung von genderuntypischen Personen auf der Straße oder am Arbeitsplatz, Diskriminierung bei der Stellensuche und Gewalt.

Das alte TSG ist insofern eine gesetzliche Umsetzung dieses Regimes! Es sollte sicherstellen, dass die Gendernormen nicht durch abweichende Individuen in Frage gestellt werden können (-> Wen schützt das TSG?)

Foucault nennt das die “Politik der Wahrheit”. Sie haftet jenen Machtbeziehungen an, die im Voraus festlegen, was als Wahrheit gilt und was nicht, die Welt auf bestimmte reguläre und regulierbare Weise ordnen und die wir schließlich als das gegebene Wissensfeld akzeptieren.

Die Frage, wer oder was als wirklich und echt angesehen wird, ist anscheinend eine Frage des Wissens. Sie ist aber auch, wie Foucault klar macht, eine Frage der Macht.

Die Normen produzieren “eine idealisierte menschliche Anatomie”. Die Folge: durch die Normabweichung werden trans Individuen pathologisiert.

Ob die Existenz einer medizinischen Diagnose (aktuell Gender Disphorie) wirklich notwendig ist, und ob das gut oder schlecht für die Betroffenen ist, darüber lässt sich streiten. Auch Butler macht sich dazu Gedanken. Einerseits: Menschen pathologisieren, bloß weil sie nicht zu einer kulturellen Norm passen, ist falsch! Andererseits: Ohne Diagnose gibt es keine leidensmindernde medizinische Behandlung und schon gar keine Kostenerstattung von den Krankenkassen! 

Für viele trans Personen sind medizinische Maßnahmen essentiell. Sie leben nun einmal in einer Gesellschaft, in der man nicht nur entweder Mann oder Frau zu sein hat, sondern in der auch noch konforme Genitalien erwartet werden. Doch Gender lässt sich auch nicht einfach und vor allem nicht nur mit dem Skalpell herstellen.

Individuen in die Norm pressen: der Fall Reimer

Wenn es um die Frage geht, was passiert, wenn man Menschen ohne Rücksicht auf ihr Inneres in eine Norm presst, dann kommt man um den Fall Reimer nicht herum .Was ist passiert? Siehe Wikipedia David Reimer. Im Kern handelt es sich hier um ein schreckliches Menschen-Experiment.

John Money “… vertrat die Ansicht, wenn ein Kind chirurgisch behandelt und in einem anderen als dem ihm bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht sozialisiert werde, könne es sich ganz normal entwickeln, hervorragend an die neue Geschlechtsidentität anpassen und ein glückliches Leben führen.

Butler kritisiert die Vorstellung, dass Natürlichkeit wird künstlich herbeigeführt werden kann. 

Von den Medien wurde der Fall (Reimer) tatsächlich als Beweis für die These genutzt, was weiblich und was männlich sei, könne verändert werden, diese kulturellen Begriffe hätten keine festgelegte Bedeutung oder innere Bestimmung, und seinen formbarer als man geglaubt hatte. Sogar Kate Millett zitiert den Fall, um zu zeigen, dass Biologie kein Schicksal sei.

Ist sie aber. Man kann ihr nicht entkommen. Aber sie ist eben nicht so dual kategoriell, wie unsere Geschlechternormen behaupten und wir als selbstverständlich annehmen.

Butler leugnet nicht, dass es einen „geschlechtlichen Wesenskern“ gibt, der in unserem Körper verankert ist. Aber er ist eben allein nicht an Penis und Vagina, Körperbau und Chromosomen geknüpft, sondern liegt auch an anderer Stelle.

In der Folge sieht Butler die Normanpassung mit dem Skalpell kritisch:
Dient der chirurgische Eingriff überhaupt dazu, einen “normal” aussehenden Körper zu schaffen? Die Verstümmelungen und bleibenden Narben beweisen das wohl kaum.

Das Ergebnis ist ernüchternd:
Einerseits sind Menschen offensichtlich nicht kulturell beliebig formbar. Man kann die Stimme, die Vorstellung in ihnen, wer sie sind, nicht zum Schweigen bringen oder manipulieren.
Andererseits klappt es aber auch nicht, die Personen mit chirurgischen Mitteln perfekt normgerecht zu machen.

Solche Bemühungen“ um „Korrektur“ verletzen nicht nur das Kind, sondern leisten auch der Idee Vorschub, Gender müsse auf der anatomischen Ebene in singulärer und normativer Form bestätigt werden. „Gender ist eine andere Art von Identität und deren Verhältnis zur Anatomie ist kompliziert.

Der Weg, die Individuen unter die Norm zu zwingen, ist nicht nur ethisch falsch und gewalttätig. Zudem funktioniert er noch nicht einmal vernünftig, weder für die Individuen noch für die Gesellschaft. Folglich bleibt nur der andere Weg. Und für diesen plädiert Butler leidenschaftlich: die Normen müssen sich ändern.

Wie kann man die Gendernormen erschüttern oder aufweichen?

Geht das überhaupt? Für übliche soziale Verhaltenserwartungen würde man die Frage gar nicht stellen. Sie sind Kultur und Kultur ändert sich. Sozialer Wandel ist eine Selbstverständlichkeit. Aber bei den Gendernormen ist es komplizierter. Denn das binäre System von Männern und Frauen wird überwiegend der Natur zugeordnet. 

Weil sie es als Natur sehen, gilt es als “gesetzt”, obwohl es seinem Charakter als kultureller Norm entsprechend theoretisch änderbar ist. Doch das ist nicht einfach.

Für die Geschlechternorm bedeutet das also, dass es nicht nur wichtig ist zu verstehen, wie die Bestimmungen für die Geschlechter eingeführt, naturalisiert und als Voraussetzung etabliert werden, sondern auch die Momente ausfindig zu machen, wo das binäre Gender-System umstritten ist und angefochten wird, wo die Geschlossenheit der Kategorien in Frage gestellt wird und wo sich Gender im sozialen Leben selbst als formbar und gestaltbar erweist.

Wenn ich Butler folge, dann ist Selbstbestimmung ethisch der einzige Weg. Und er bringt notwendig auch eine Neudefinition der Gendernormen mit sich.

Die Normen selbst können erschüttert werden, können ihre Instabilität zeigen und können der Umdeutung zugänglich werden.

Genau das ist es, was den Widerstand von den Schwarzers, Wagenknechts und Weidels triggert: Normen, die ihnen lieb und wichtig sind, werden erodieren. Sie wollen nicht, dass sich an den vertrauten Normen etwas ändert! Das Leid von ein paar Hundert oder Tausend Individuen, die unter den rigiden Normen nicht existieren können, ist für sie irrelevant bzw. zu vernachlässigen im Vergleich zum gesellschaftlichen Nutzen einfacher, klar abgegrenzter Genderzuordnungen. Ihnen geht es nicht um die Menschen, sondern um die Normen und die Macht über die Personen, die sie mit sich bringen.

Ein Schritt in Richtung auf eine Veränderung der Gendernormen ist mit dem Selbstbestimmungsgesetz in Deutschland gemacht (-> Gamechanger Selbstbestimmung)

Tatsächlich mag Gender wie Natur wirken, doch im Kern ist es eine Norm. Und die lebt nun mal von ihrer gesellschaftlichen Umsetzung und Beachtung .

Tatsächlich besteht die Norm nur in dem Maß als Norm fort, in dem sie in der sozialen Praxis durchgespielt und durch die täglichen sozialen Rituale des körperlichen Lebens und in ihnen stets aufs Neue idealisiert und eingeführt wird.

Das bedeutet umgekehrt: Die Individuen können und müssen die Norm in Frage stellen. Durch das Selbstbestimmungsgesetz haben Menschen in Deutschland nun diese Möglichkeit. Sie können sich nicht nur außerhalb des binären Gendermodells definieren, sondern dafür auch staatliche Akzeptanz zu erlangen. Die Zukunft wird zeigen, ob und in welchem Maße es dafür ein Bedürfnis gibt. Und das wiederum wird das binäre Modell erodieren. Oder, wenn die Konservativen recht haben, auch nicht.

Pythagoras, als er seinen berühmten Lehrsatz gefunden hatte, opferte im Gefühl der dankbaren Freude dem Jupiter 100 Ochsen, und Kant, wenn er diese Geschichte erzählte, pflegte hinzuzusetzen: “Und deshalb, meine Herren, zittern alle Ochsen, wenn eine neue Wahrheit gefunden wird.”
Fritz Reuter

Die subversive Kraft von Drag

Eigentlich ist der Anfang der Erosion schon lange gemacht. Butler bezieht sich hier auf die Drag-Kultur. Denn diese besteht im Kern aus einer kalkulierten Verletzung der Gendernormen. Drag hat neben der Faszination der künstlerischen Normverletzung auch eine große subversive Kraft. Drag entlarvt, wie viel von Gender Darstellung ist. Damit hilft es, die “natürliche Selbstverständlichkeit” der Gendernormen zu erschüttern und zu zersetzen.

Wenn Gender performativ ist, dann folgt daraus, dass die Realität der Geschlechter selbst als ein Effekt der Darstellung produziert wird.

Man zitiert natürlich Normen, die bereits existieren, aber diese Normen können durch das Zitieren erheblich an Selbstverständlichkeit verlieren. Sie können außerdem als nicht natürlich und nicht notwendig entlarvt werden, sobald sie in einem Zusammenhang und in einer Verkörperungsform auftreten, die den normativen Erwartungen widerspricht.

Wo führt das hin?

Es ist schwer, sich etwas vorzustellen, dass es nicht gibt. Wie wäre unsere Gesellschaft mit einem anderen, flexibleren, vielfältigeren Modell von Gender?

“Was wäre, wenn neue Formen von Gender möglich sind? … Ich würde sagen, dass es keine Frage ist, bei der es lediglich darum geht, noch nicht existierenden Genderformen eine neue Zukunft zu ermöglichen. Die Genderformen, an die ich denke, existieren schon lange, sie wurden allerdings nicht zugelassen für den Bereich der Begriffe, welche die Realität regieren.

Hier liegt jedoch ein Problem, das Butler für mich zu wenig ausführt. Es mag sein, dass die diversen Genderformen schon lange existieren. Doch weil das binäre System so mächtig war, haben wir für sie keine Namen, keine Begriffe. Wie sollen wir im Alltag von diversen Menschen sprechen. Hier gibt es noch viele ungelöste Fragen. Doch ich bin sicher, wir werden Lösungen finden. Wir werden neue Worte finden und sie in unser Leben integrieren. Wir haben ja auch für Computer, Smartphones und das Internet, von denen unsere Sprache vor 100 Jahren noch nichts wusste, Worte gefunden.

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