Auch 2024 durfte ich wieder an der Veranstaltung „Queere Worte sind divers“ im Rahmen der Pride Weeks Nürnberg teilnehmen.
Hier ist mein Text.
In Deutschland reden gerade viele über Gender und das Gendern. In Bayern darf nicht mehr gegendert werden. Jedenfalls nicht in Schulen und Hochschulen.
Glaubt man manchen Politiker*innen und Journalist*innen, dann versucht gerade eine marginale und trotzdem unfassbar mächtige Randgruppe die heile Welt unserer Gesellschaft zu zerstören.
Hier! Ich! Also los!
Biologie
Bevor ich über Kultur und Sprache rede, möchte ich über Biologie reden. Aber nur kurz.
Die reaktionären Kräfte behaupten, das biologische Geschlecht sei einfach und eindeutig. Das ist Quatsch. Die Natur kennt keine klar begrenzten Kategorien. Oder sie hält sich nicht daran.
Das gilt für unsere Körper. Jede Einzelne von uns ist ein Ausdruck der unendlichen Vielfalt der Natur
Es gilt für unsere Gehirne. Eine Neuropathologin, der man ein Gehirn auf den Seziertisch legt, kann nicht feststellen, ob es aus einem weiblichen oder einem männlichen entnommen wurde
Und das gilt auch für unseren Geist. Wir sind nicht eindeutig männlich oder weiblich, sondern ein Mosaik aus Eigenschaften, die eher männlich oder weiblich sind.
Natur bedeutet immer Vielfalt.
Gender
Klar getrennte Kategorien gibt es nur beim Gender.
Die Kultur kennt im fiktionalen Bereich viele Mischwesen. Der Möter aus Spaceballs ist eine Mischung aus Mensch und …. Hund. Ich könnte noch viele Beispiele nennen
Aber so gut wie nie wird die Grenze zwischen den Geschlechtern oder genauer zwischen den zwei Gendern in Frage gestellt. Selbst in den wildesten Fantasien bleibt diese Grenze unangetastet. Die fiktionalen Welten in Fantasy und Science Fiction kennen die absonderlichsten Wesen, die verschiedensten Gesellschaften, sie sind matriarchal, patriarchal oder egalitär. Doch immer sind sie entlang der Genderkategorien konstruiert.
Gender ist eine mächtige Kraft, die unsere Gesellschaft strukturiert. Und nicht nur die Gesellschaft. Auch unsere eigene Wahrnehmung. Wie ein Filter sorgt sie dafür, dass wir gar nicht anders können, als alle Menschen, die wir sehen, sofort als männlich oder weiblich einzusortieren.
Trotzdem war Gender lange Zeit unsichtbar. Wir haben im Deutschen nicht einmal ein eigenes Wort dafür.
Warum war Gender unsichtbar?
Für die Antwort könnte ich jetzt lange Judith Butler referieren.
Keine Panik, ich mache es knapp: Gender ist zwar ein Set kultureller Normen, doch sie werden sehr weitgehend gar nicht als kulturelle Sollenssätze erkannt, sondern als selbstverständlich bzw. natürlich oder biologisch angenommen.
Zur Erläuterung erzähle ich euch die Geschichte, die David Foster Wallace an den Anfang seines großartigen Aufsatzes “This is water!” gestellt hat:
Zwei junge Fische schwimmen herum und treffen dabei eine älteren Fisch. Der nickt ihnen zu und sagt: “Hallo Leute, wie ist das Wasser heute?”
Die beiden schwimmen weiter. Nach einer Weile schaut einer den anderen an und sagt: “Was zur Hölle ist Wasser?”
Was selbstverständlich ist, ist unsichtbar!
Sprache
Ich liebe Sprachen! Sprachen sind wundervoll. Und so verschieden!
Im Englischen gibt es keine Unterscheidung zwischen Sie und Du.
Im Thailändischen gibt es kein Wort für Ich.
Das Finnische unterscheidet in der Dritten Person Singular nicht zwischen Männern und Frauen. Man sagt immer “hän”.
Das Englische übrigens zwingt uns sprachlich nicht dazu, jeder Person, über die ich rede, ein Gender zuzuweisen. Es ist neutral.
Aus dem Satz “Harper is a scientist” lässt sich nicht ableiten, ob Harper eine Frau oder ein Mann ist. Und man könnte noch lange von Harper erzählen, ohne ihr oder ihm ein Gender zuzuweisen. Versucht das mal auf Deutsch!
Pronomen
Die aktuellen Bestrebungen, unsere Sprache zu verändern, haben ein Ziel: Die vorhandene Vielfalt soll sichtbar gemacht werden. Es gibt mehr als nur Männer oder Frauen. Sowohl biologisch als auch sozial.
Diese Vielfalt der Realität soll erkennbar sein und nicht mehr durch die Gewalt der Sprache zum Verschwinden gebracht werden. Sie sollen nicht nur rechtlich existieren dürfen, und das dürfen sie endlich (Danke Bundesverfassungsgericht!), sondern sie sollen auch sozial sichtbar sein dürfen.
Dafür braucht es Worte. Wenn es für etwas keine Worte gibt, dann kann man darüber nicht sprechen. Für die Nerds unter euch: genau: Wittgenstein!
Und damit sind wir bei den Pronomen. Andere Sprachen haben geschlechtsneutrale Pronomen.
Das Finnische “hän” habe ich schon erwähnt.
Die, in denen historisch mehr als zwei Gender existieren, haben sie sowieso.
Und andere Sprachen haben sich weiterentwickelt.
Im Schwedischen gibt es “hen”.
Im Isländischen gibt es „hán“ als neues neutrales Pronomen.
Das US-Wörterbuch Merriam-Webster’s Dictionary enthält seit September 2019 eine eigene Bedeutung für das Fürwort they: „used to refer to a single person whose gender identity is nonbinary”
Ich will hier nicht darüber reden, wie man es machen kann. Ich rede davon, dass man es machen kann, …. wenn man es nur will!
Selbst einfachste Lösungen werden bei uns angefeindet. Denken wir z.B. an den ”stimmlosen glottalen Plosiv”,
also den Glottisschlag oder die Genderpause.
Manche kriegen Wutanfälle, wenn sie nur hören, dass jemand Freund*innen oder Bürger*innen sagt. Sie würden den Glottisschlag am liebsten verbieten. Aber wie sprechen sie dann Worte wie Spiegelei oder Hebamme aus?
Macht
Jetzt kommen wir zum Kern der Sache. Es geht eben nicht um Einfachheit und Ästhetik, weil Veränderungen zu unlesbaren oder unschönen Texten führen.
Nein, es geht um Macht!
Es geht darum, wie viel Macht die Gesellschaft über das Individuum hat und haben darf.
Wo endet die Macht der Gesellschaft und wo beginnt die Freiheit des Individuums? Wie viel Respekt verdient die Selbstdefinition?
Aktuell zwingt uns unsere Sprache noch dazu, jeder Person ein Gender zuzuweisen, auch wenn das in dem speziellen Kontext keine Rolle spielt oder zumindest keine spielen sollte. Ist es wichtig, ob ein Mann oder eine Frau eine Expertise abgibt? Oder welches Gender die Person hat, die das Flugzeug fliegt oder den Bus fährt, in dem ich sitze? Bei einer Veränderung würde Biologisches Geschlecht, oder was wir dafür halten, weniger wichtig werden.
Wer ist wirklich besessen von Gender und davon, dass es bestimmt, wer und wie wir in der Gesellschaft zu sein haben?
Sind es wirklich diejenigen, die sagen, dass eine Person nur für sich selbst wissen kann, wie sie wirklich ist? Und dass ihre Selbstsicht Respekt verdient?
Oder sind es diejenigen, die aus äußeren Merkmalen auf das Wesen einer Person schließen und ihr diese Wahrnehmung aufzwingen?
Wer gendert denn dauernd?
Gerade die größten Gegner*innen des Genderns würden niemals auf das Gendern verzichten. Sie sind es, die alle gendern wollen. Aber eben nach ihrem einfachen Raster.
Diejenigen, die sich auf Natur oder Normalität berufen, tun im Kern das Gegenteil: sie stülpen der Realität und vor allem den Menschen ihr schlichtes Modell über.
Das sind für mich die wirklichen “Gender-Extremist*innen”. Sie beharren auf ihrer Macht, einer Person sagen zu dürfen, wer sie ist.
Die Konservativen, die Söders, Aiwangers, Weidels, aber auch die Wagenknechts und Schwarzers bestehen auf dem Recht, alle Menschen in ihr schwarz-weiß oder auch rosa-blau Raster stecken zu dürfen. Niemand darf außerhalb dieser Boxen sein und vor allem hat jede Person sich gefälligst in die Box einzusortieren, die ihr von ihnen zugewiesen wird.
Die Bestrebungen, eine Weiterentwicklung der Sprache zu verhindern, sind nichts anderes als eine Form der Realitätsverweigerung. Nicht anders als beim Leugnen des Klimawandels.
Meine Hoffnung
Meine Hoffnung ist: die Diskussion ist da. Und sie wird auch nicht wieder weggehen.
Es ist damit wie mit Zahnpasta: Ist sie erst einmal aus der Tube, kriegt man sie unmöglich wieder rein!
Freuen wir uns auf eine bunte Welt mit freien Menschen und vielen Gendern! Und ich bin gespannt auf die Worte, die wir dafür finden werden.
Querverweise
- Gamechanger Selbstbestimmungsgesetz
- Gedanken zu Judith Butler
- Was ist Gender?
- Frauen gegen Frauen (Queere Worte sind divers 2022)
© Jula Böge 2024