Für Menschen, die meine Bedürfnisse nicht nachvollziehen können, ist das was ich tue zunächst einmal einfach nur skurril, vielleicht sogar lächerlich.
Doch aus einem anderen Blickwinkel, stellt sich meine „seltsame Neigung“ eventuell als etwas dar, das Anforderungen an mich stellt, die auch nicht wesentlich anders wären, wenn ich statt dessen einen Abenteuerurlaub machen würde, z.B. eine anspruchsvolle Bergtour oder eine Individualreise in den Dschungel. Der Vergleich ist gar nicht so weit hergeholt. Denn die modernen Abenteurer verlassen (ebenso wie ich) um des Erlebnisses willen die vertraute, schützende Zivilisation und stellen sich neuen Herausforderungen.
Wenn ich als Frau nach draußen gehen will, dann begebe ich mich in eine Situation, die weit entfernt ist, von dem was mir mein Alltag als Mann abverlangt. Ich setze mich Risiken aus, die nicht bis ins Detail abschätzbar sind. Es schaut zwar so aus, als würde ich nur einen Spaziergang in der Nachbarstadt machen, doch tatsächlich lasse ich mich auf ein kleines Abenteuer ein. Ich behaupte nicht, dass ich mich in unserer toleranten, zivilisierten Gesellschaft in eine reale Gefahr begebe. Aber ich verlasse den gesellschaftlichen Normalbereich und das ist für mich ein Abenteuer. Um es meistern zu können brauche ich, was jeder andere Abenteurer auch braucht: Ausrüstung, Wissen, Können und Charakter.
Ausrüstung
Über die Ausrüstung muss ich wohl nicht groß reden, oder? Da als Frau unterwegs bin, brauche ich die gleichen Dinge, die auch die anderen Frauen verwenden: ihre Kleidung, ihre Schuhe, ihr sonstiges Zubehör.
Schon die Beschaffung ist ein kleines Abenteuer für sich, doch davon will ich hier nicht reden.
Wegen gewisser Unterschiede in Größe und Körperbau ist es nicht leicht, etwas wirklich passendes zu finden. Und „passend „bezieht sich nicht nur auf den rein körperlichen Aspekt, sondern auch auf den diffizilen Bereich des Stils. Nicht jede Kleidung kann von jeder Frau getragen werden und Ort und Zeit spielen ebenfalls eine wichtige Rolle, wenn das Ziel der Aktion nicht gerade ist, einen Volksauflauf zu verursachen.
Kurz: Beschaffung und Auswahl der für mich und den Anlass richtigen Ausrüstung erfordert schon einiges Nachdenken. Und manches gute Stück hat versteckte Tücken! Schuhe, in denen man zu Hause prima laufen kann, entpuppen sich z.B. schon nach 500 m auf hartem Pflaster als wahre Folterinstrumente.
Außerdem muss die Ausrüstung auch komplett und in Ordnung sein. Wenn ich erst mal unterwegs bin, dann ist es zu spät. Blöd, wenn man dann erst merkt, dass man zwar den richtigen Lippenstift und auch einen Taschenspiegel dabei hat. Aber leider nicht den für die unauffällige Heimkehr unverzichtbaren Hausschlüssel.
Einen hilfreichen Ausgangsplaner findest du hier: Ausgangshilfe
Wissen
Schon meine Anmerkungen zur Ausrüstung sollten deutlich gemacht haben, dass ich einiges wissen muss, um meine Ausflüge in anderer Rolle unbeschadet zu überstehen. Ich brauche sogar eine Menge Wissen!
Das Wissen über die Kleidung und andere feminine Utensilien ist dabei fast noch das am einfachsten zu beschaffende. Auch wenn es nicht unbedingt zur männlichen Sozialisation gehört, die eigene BH-Größe zu kennen. Wie gut, dass es Maßtabellen in Katalogen gibt. Doch ich muss auch wissen, dass nicht alles was mir passt mir auch steht. Was betont bzw. kaschiert die richtigen Stellen? Es ist nicht leicht zu wissen, welche Farben und Muster harmonieren, wenn man in einer Welt zuhause ist, in der als Kleidungsfarben nur weiß, schwarz, blau und braun akzeptiert sind. Die Grenze zwischen „chic“ und „unmöglich“ sollte man kennen, wenn man unauffällig bleiben will.
Wohl das Wichtigste ist das Wissen, das „normale“ Frauen gar nicht brauchen, weil sie eben Frauen sind und nicht darüber nachdenken müssen. Z.B. das Wissen über die kleinen verräterischen Unterschiede zwischen Mann und Frau. Frauen halten und verhalten sich anders, das weiß wohl jeder …. aber wie genau? Was ist der Unterschied zwischen männlichem und weiblichem „Rumstehen“? Weil ich ansonsten schon so männlich bin, kann ich es mir nicht erlauben, als Frau auch noch durch männliches Gehabe aufzufallen.
Ich brauche auch das Wissen über die möglichen Gefahren und wie ich ihnen begegnen kann. Tagsüber in einer Fußgängerzone ist es für Frauen ungefährlich, doch nachts und in einsamen Gegenden sieht die Sache anders aus. Ich kann zwar nicht „wirklich“ vergewaltigt werden, aber das bemerkt ein eventueller Angreifer im Fall der Fälle wohl erst zu spät. Und dann bin ich für ihn eventuell Objekt seiner Wut und Frustration. Darüber hinaus drohen weitere Gefahren, die daraus resultieren, dass ich eben doch keine richtige Frau bin, sondern für andere eventuell bloß ein lächerlich gekleideter Mann. Ich gebe zu, dass eine meiner schlimmsten Angstphantasien ist, zum Spielball einer übermütigen Clique von Jugendlichen zu werden. Es muss mir bewusst sein, wo ich wann hingehe und was mich dort erwarten könnte.
Ich weiß eine Menge (siehe auch den Text von Shirley Anne), doch ganz bestimmt nicht genug! Aber es macht mir ja Spaß, von den anderen Frauen zu lernen.
Können
Im Bereich des Könnens gibt es jede Menge zu Lernen und Perfektion ist ein unerreichbares Ideal. Allein schon die Ausrüstung! Sie haben ist eine Sache, der richtige Umgang mit ihr ganz eine andere! Als instruktives Beispiel erwähne ich hier nur mal den Umgang mit den MakeUp-Utensilien:
Wie schminke ich mich richtig? Was ist dabei zu viel und was zu wenig? Und kriege ich es technisch überhaupt hin mit meiner reduzierten Farbtauglichkeit und meinen großen Händen?
Doch ich muss noch sehr viel mehr können: Frauen gehen anders, reden anders, verhalten sich anders. Es ist wirklich eine andere Welt bzw. die gleiche Welt aus einer vollkommen anderen Perspektive. Um nachvollziehen zu können, wie schwierig das ist, schlage ich einen kleinen Selbstversuch vor. Wenn du Rechtshänder/in bist, versuche mal 6h lang ununterbrochen alles statt mit der rechten mit der linken Hand zu machen (für Linkshänder/innen natürlich umgekehrt!). Schwierig, oder? Und sowie man einen Moment nicht aufpasst, verfällt man sofort wieder in die altgewohnten Verhaltensweisen.
Da hilft nur übung! Hier ist es wie sonst im Leben auch: Können erwirbt man durch Training! Ich trainiere eine Menge (in meinem ganz normalen Leben). Aber der Einsatz im „Ernstfall“ ist ähnlich wie bei Sportlern im Wettkampf dann wieder eine ganz eigene Sache. Und jeder Fehler, den man im Training nicht beachtet oder den man sich sogar fälschlicherweise angewöhnt hat, führt im „Echtbetrieb“ zu Problemen. Und dort gibt es kein zurück, keine 2. Chance. Wenn ich viel Glück habe, dann bemerkt den Fehler niemand außer mir selbst.
Charakter
Und schließlich brauche ich noch Charakter! „Charakter?“ höre ich dich fragen. „Was braucht es schon für tolle Charaktereigenschaften, seinen Wünschen nachzugeben? Ist mangelnde Selbstbeherrschung ein toller Charakterzug?“ NEIN, so einfach kannst du es dir nicht machen! Sieh es mal mit meinen Augen: Ich begebe mich in eine Situation, in der es allein von mir und meinen Fähigkeiten abhängt, ob ich in ihr vor einem unbekannten Publikum bestehen kann. Dabei schätze ich die körperliche Gefährlichkeit sehr viel niedriger ein, als die soziale (Erkanntwerden, Verstoß gegen sittliche Normen und folgende gesellschaftliche Sanktionen für mich und auch meine Angehörigen). Da reicht Ausrüstung, Wissen und Können nicht aus!
Mut
Ich brauche Mut um zu tun, was ich tue. Eine Frau von 190 cm (ohne Absätze) erregt Aufsehen, selbst wenn sie den „richtigen“ Chromosomensatz hat! Leute werden mich zweifelnd mustern und auf mich reagieren. Die meisten gleichgültig, einige belustigt und manche sogar verärgert. Trotz meiner bisherigen Ausflüge bin ich mir meiner Wirkung nicht sicher. Und es gibt immer auch die Gefahr von jemandem erkannt zu werden, von dem ich nicht erkannt werden möchte.
Organisationstalent
Ich brauche Organisationstalent! Jede Menge! Es ist sehr schwer, ein zusätzliches geheimes Leben in einem ausgefüllten „Normalleben“ unterzubringen. Wann kann ich mal für ein paar Stunden weg? Wohin überhaupt? Wo kann ich mich umziehen? Ja, schon die Frage, wo ich meine Kleidung lagern kann, ohne die Neugier uneingeweihter Familienmitglieder zu erwecken, erfordert neben Organisationstalent auch Kreativität.
Und mehr
Ich könnte jetzt noch eine Weile weitermachen und davon reden, dass solche Fähigkeiten wie Beobachtungsgabe, Menschen einschätzen können, Körpergefühl und Bewegungstalent sehr hilfreich sind. Doch ich will nicht, dass du mich für arrogant und eingebildet hältst. Ich möchte es noch einmal betonen, das sind alles Eigenschaften, die ich brauchen kann. Das bedeutet nicht, dass ich sie in überdurchschnittlichem oder auch nur ausreichendem Maße hätte. Schön wär’s!
So habe ich mit dem, was mir eben zur Verfügung steht, meine Freude an meinen kleinen Abenteuertouren der besonderen Art. Ich tue, was ich tue, nicht, um mir oder anderen zu beweisen, wie toll ich bin. Ich tue es, weil etwas in mir mich dazu zwingt, diese Seite meiner Seele auch zu leben. Und weil es mir Freude macht, (auch) als Frau unter Menschen zu sein. So wie der Bergsteiger es genießt auf dem Gipfel eines Berges zu stehen, so genieße ich es, in einem leichten Sommerkleid in einem Straßencafe zu sitzen und einen Cappuccino zu trinken. Ich bin dann auch ein wenig stolz auf mich, weil es gar nicht so leicht für mich war, dorthin zu kommen.
© Jula 2003