„Das wird ja immer mehr!
Vor ein paar Jahren hat es dir gereicht, wenn du ab und zu mal einen Rock und eine Strumpfhose angezogen hast.
Und nun …“
Fast alle von uns, die in einer Beziehung leben und versuchen, ihre Transidentität in diese zu integrieren, kennen diese Worte ihrer Frau. Und schuldbewusst blicken wir zu Boden und müssen gestehen: Ja, das scheint tatsächlich so zu sein!
Wo vorher ein unauffälliger und scheinbar ganz normaler Mann war, da tauchen zunehmend andere, weibliche Aspekte auf.
Die weiblichen Anteile im Leben nehmen langsam (bei manchen auch sprunghaft schnell) zu und verdrängen vorher vorhandene männliche.
Die bevorzugte Kleidung (insbesondere im nicht allgemein sichtbaren Bereich) verändert sich. Jeans und Freizeitkleidung werden nicht mehr in der Männerabteilung gekauft, Körperbehaarung vermindert sich, dafür tauchen Schmuckstücke auf.
„Sie“ beansprucht immer mehr Platz auf Kosten des Mannes.
Bildlich könnte man das so ausdrücken:
Der anfangs noch unangetastete männliche (blaue) Bereich wird von einem stetig größer werdenden, weiblichen Bereich (rosa) zurückgedrängt.
So erleben wohl viele Frauen den Prozess, wenn sie mit ihrem Partner gemeinsam versuchen, seine weiblichen Neigungen in der Partnerschaft zu akzeptieren. Natürlich ist das beängstigend. „Wo wird das enden?“und vor allem: „Sollte man nicht irgendwo eine Grenze ziehen?“ sind übliche Überlegungen.
Doch ist es wirklich so, dass die weibliche Seite zu Lasten der männlichen wächst, diese geradezu auffrisst?
Oder ist es anders?
Nach meinem Erleben ist es eher so:
Die Menge an Weiblichkeit, die in mir drin steckt, hat sich nie verändert. Sie war immer gleich und sie wächst auch nicht.
Was sich verändert ist lediglich (?) der Aufwand, den ich treibe, um die weiblichen Aspekte zu verstecken. Wenn Menschen wie ichtransidente Menschen – so tun, als seien sie ganz normale Männer (bzw. Frauen, doch das ist nicht mein Thema), dann bedeutet das die nachhaltige Unterdrückung eines relevanten Teils der Persönlichkeit. Je mehr Freiheiten ich mir in der Selbstrepräsentation „gönne“ (korrekt: je weniger ich diesen Teil von mir unterdrücke), je mehr ich die Sachen trage und tue, die ich wirklichmag und nicht mehr die, die von mir erwartet werden, weil ich ja körperlich ein Mann bin, um so mehr der vorhandenen Weiblichkeit wird sichtbar.
Noch mal ganz deutlich: Ich werde nicht weiblicher im Lauf der Zeit, sondern weil ich mehr zu mir selber stehe und mich so präsentiere, wie ich mich mag und wie ich wirklich bin, scheint es nur so als würde ich im Laufe der Zeit immer weiblicher werden. Weil ich nämlich nicht mehr vortäusche, männlich zu sein. So war ich schon immer! Ich habe es bloß nicht gezeigt, sondern mit männlichem Getue übertüncht.
Mehr oder weniger – ist das nicht bloß Wortklauberei?
Nein, ich finde das ist ein relevanter Unterschied.
Im einen Fall verändert sich der Mensch. Etwas wächst in ihm. Brutal gesagt, so etwas wie ein Krebsgeschwür. Und dieses Geschwür macht einen gesunden Mann langsam kaputt.
Im zweiten Fall bleibt der Mensch unverändert. Er traut sich nur in größerem Maße sich so zu zeigen, wie er sich fühlt. Er hört (zumindest partiell) auf, sich zu verstellen. Wenn das so ist, dann ist der krankmachende Zustand der sich zu verstellen und damit aufzuhören ist ein Weg zu mehr körperlicher und geistiger Gesundheit.
Nach meinem Empfinden beschreibt die zweite These den Vorgang korrekt. Damit lässt sich übrigens auch erklären, warum es relativ viele „Spätberufene“ bei uns Transgendern gibt. Es ist ein bekanntes Faktum, dass sich so etwa ab dem 40. Lebensjahr viele zu ihrer Transidentität bekennen, die vorher unauffällig männlich waren. Und der Grund dafür ist, dass die Kraftreserven für das dauernde Theaterspielen nicht mehr ausreichen.
Halt! An dieser Stelle muss ich ganz deutlich sein. Viele Frauen werden eventuell den Kraftaufwand an der falschen Stelle vermuten. Sie denken vielleicht, es würde ihren Mann Zeit und Kraft kosten, die weibliche Seite auszuleben. Doch das Gegenteil ist der Fall. Es kostet ihn, wenn er so ähnlich tickt wie ich, ungeheure Kraft, es NICHT zu tun, sondern aller Welt den normalen Mann vorzuspielen, der er nicht ist.
Jeder Tag, jede Woche, jeder Monat unauffälliger Männlichkeit, die gelebt wird, weil die Frau oder Familie es verlangt oder auch nur weil man meint, es ihr zuliebe tun zu müssen, braucht Energie. Denn es geht nicht darum einfach etwas zu lassen. Sondern es geht darum, aktiv einen Anteil der Persönlichkeit zu unterdrücken. Das geht, wie schon das Wort sagt, nur mit Druck. Und Druck kostet Kraft.
Irgendwann erlahmt auch der stärkste Mann. Die Kraft, die es braucht, ständig Druck auf sich selbst auszuüben, reicht einfach nicht mehr aus.Bei mir war es jedenfalls so. Außerdem hat man spätestens in diesem Alter kapiert, dass man nicht unsterblich ist. Eine Erkenntnis, die unmittelbar die Frage auslöst, wie lange man denn noch darauf verzichten will, seine Bedürfnisse zu leben, bloß um Konventionen und die Erwartungen anderer Menschen zu erfüllen. „Er tat immer was von ihm erwartet wurde“ ist ein Grabsteinspruch, der von Opfermut und Selbstverleugnung zeugt. Ehrlich gesagt, entspricht das nicht meinem Selbstbild. Aber sehr lange habe ich genau das getan:habe meine eigenen Bedürfnisse und Wünsche verleugnet und aller Welt die Rolle „ganz normaler Mann“ vorgespielt.
Und wo wird das alles enden?
Tja, das hängt stark davon ab, wie die einzelne Person im Inneren gestrickt ist.
Das ist der Alptraum jeder Ehefrau! Der Mann ist komplett verschwunden, da ist „nur noch“ eine Frau!
Doch wie gesagt, das ist keine Veränderung des Menschen. Er war unter dem Deckmantel gespielter Männlichkeit schon immer so. Es war nicht zu sehen, aber trotzdem war es da.
Die schlechte Nachricht für die Partnerin bzw. die Familie ist: wo es endet ist weder zu beeinflussen noch zu kontrollieren. Das ist Schicksal. Da helfen weder Wille noch Therapien. Kein Druck und keine Liebe. Die gute Nachricht ist: niemand ist schuld. Weder die Eltern noch die Frau tragen irgendeine Verantwortung für das was passiert. Die betroffene Person übrigens auch nicht.
Ein wichtiges Indiz für die Frage, wo das alles endet, ist das Verhältnis des transidenten Menschen zu seinem Körper. Wer unter seinem Männerkörper leidet, sich nicht mit ihm arrangieren kann, ihn ablehnt oder sogar hasst, wird kaum Kompromisse eingehen können, die den Körper unangetastet lassen. Umgekehrt werden diejenigen, denen ihr Männerkörper egal ist bzw. die ihn sogar so mögen wie er ist, wohl kaum riskieren, ihn zu zerstören und lieber Kompromisse eingehen, was ihre Akzeptanz als Frau betrifft.
In vielen Fällen, z.B. auch in meinem, sieht es wohl eher so aus:
Irgendwann ist ein stabiles Niveau erreicht. Ein für das Individuum (jedoch nicht unbedingt für seine Angehörigen) erträglicher Mix aus weiblicher und männlicher Außendarstellung ist gefunden. Wo dieser „Wohlfühlstatus“ ist, das ist sehr unterschiedlich. Manchen genügt es, ab und zu mal ihre weibliche Seite in der Wohnung ausleben zu dürfen, andere sind eventuell bloß noch pro forma und in begründeten Ausnahmefällen als Mann unterwegs („für meine Mutter“, „an der Arbeit“)
Das sagt nichts darüber aus, wie weiblich sich die einzelne Person tatsächlich ist. Es gibt eine Menge Gründe, Selbstverwirklichung nicht zum alleinigen Entscheidungskriterium zu machen. Manche Sachen muss man tun, bei anderen hat man Spielräume und die kann man so und so nutzen. Es gibt viele Gründe, auf die komplette Offenlegung der eigenen Identität zu verzichten: Familie, Partnerschaft, Job, Gesundheit usw. usf.
Auch solche Fälle gibt es:
Wohl dem- bzw. derjenigen, die keine irreversiblen Entscheidungen getroffen hat.
Kernpunkte
- Die Menge an Weiblichkeit ändert sich nicht im Laufe der Zeit! Sie war schon immer da, sie war bloß nicht zu sehen.
- Die eigenen Wünsche und Vorlieben zu verbergen, ist ein Aufwand, der Kraft kostet. Transidente Menschen nehmen diesen Aufwand häufig auf sich. Sie tun es, weil es vernünftige Gründe dafür gibt.
- Wo das alles endet, weiß häufig nicht einmal der transidente Mensch selbst. Aber wo auch immer es enden mag, beeinflussbar ist das von Seiten anderer Menschen nicht. Beeinflussbar ist (mit ein wenig Mühe und Glück) nur die Menge des Leides, die auf dem Weg anfällt.
- Niemand trägt Schuld, wenn der geliebte Partner, Vater oder Sohn mehr und mehr zur Frau zu werden scheint. Es kommt bloß nach und nach mehr von der Person zum Vorschein, die er sowieso und schon immer war.
- Bloß, weil man etwas nicht sieht, heißt das noch lange nicht, dass es nicht da ist!
Querverweise
- Wie redet man darüber in der Partnerschaft: Partnerinteressen
- Transidentität ist weder ein Hobby noch eine Sucht: Bin ich krank
- Meine eigenen Veränderungen sind nicht untypisch.
- Empirische Belege dazu finden sich bei Vernon Coleman: Männer in Kleidern
© Jula 2008