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Alltagstest Teil 1: Was ist das?

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Der wohl verhassteste Aspekt bei dem rechtlich und medizinisch dornigen Weg der Transition von Trans*personen ist der sog. Alltagstest. Der Alltagstest wurde und wird von den meisten Transpersonen als institutionelle Demütigung empfunden. Das liegt vermutlich daran, dass er zumindest in Teilen auch so gedacht ist.

Worum geht es?

Vor medizinischen Maßnahmen (Hormone, Operationen) muss die Person mind. 1 Jahr Vollzeit in der angestrebten Geschlechtsrolle leben. Eine Person, die zu diesem Zeitpunkt weder rechtlich noch medizinisch weiblich (oder männlich) ist, muss im angestrebten Gender bestehen.

Wer hat sich das ausgedacht?

Viele (und sogar auch selbst Betroffene) glauben, bei dieser Anforderung handele es sich um etwas Rechtliches, also um eine Voraussetzung, die erfüllt sein muss, damit man den Personenstand wechseln kann. Doch das ist falsch. Im TSG (siehe § 1 Voraussetzungen) ist nirgends vom Alltagstest die Rede. Um es ganz deutlich zu sagen: Für ein erfolgreiches Verfahren nach dem TSG braucht es keine vorherige Bewährung im Gender des Geschlechts, dem man subjektiv zugehörig ist.

Woher kommt der Alltagstest also? Er kommt aus den Begutachtungsrichtlinien! Den was?

Quelle ist die Richtlinie des GKV-Spitzenverbandes zur Sicherung einer einheitlichen Begutachtung nach § 282 Absatz 2, Satz 3 SGB V .

In dieser Richtlinie werden verbindliche Voraussetzungen formuliert, die gegeben sein müssen, bevor bestimmte medizin. Behandlungsmaßnahmen erstattet werden können. Zu diesen Voraussetzungen gehört auch der Alltagstest.

Richtlinie S. 10: „Der sogenannte Alltagstest (full-time real-life experience) bezeichnet eine Selbsterfahrung bzw. Selbsterprobung im Identitätsgeschlecht, indem der Betroffene durchgängig in allen sozialen Bezügen in der angestrebten Geschlechtsrolle lebt. Die Alltagserprobung soll sozial verträglich angelegt sein und nicht als durchzustehender „Härtetest“ verstanden werden. Die Alltagserprobung soll die innere Stimmigkeit des Identitätsgeschlechtes in seiner individuellen Ausgestaltung und die Lebbarkeit der gewünschten Geschlechtsrolle zeigen und sollte zu einem Zugewinn an Lebenszufriedenheit führen. Die Dauer der Alltagserprobung ist abhängig von den Erfordernissen des Einzelfalles und der jeweils beantragten geschlechtsangleichenden Maßnahme.“

Die Standards wiederum haben sich die Autor*innen der Richtlinie nicht selbst ausgedacht, sondern sie geben das wieder, was in Deutschland als Stand der (medizinischen) Wissenschaft gilt. Das sind immer noch die „Standards der Behandlung und Begutachtung von Transsexuellen der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung, der Akademie für Sexualmedizin und der Gesellschaft für Sexualwissenschaft“ von 1997.

Dort wurde für den deutschen Bereich der Alltagstest als notwendige Voraussetzung für medizin. Behandlungsmaßnahmen definiert. Es ist so etwas wie die deutsche Version der Behandlungsleitlinien der World Professional Association for Transgender Health (WPATH), den sogenannten „Standards of Care (SOC).

Der Alltagstest wird vom MDK vor jeder medizinischen oder juristischen Maßnahme gefordert, um eine Empfehlung für die Krankenkasse zur Kostenübernahme abgeben zu können. Seine Mindestdauer ist je nach angestrebter Behandlungsmaßnahme unterschiedlich, beträgt jedoch regelmäßig mindestens 12 Monate.

MaßnahmeRichtlinie 2009Standards 1997
Hormonbehandlung> 12 Monate> 12 Monate
Epilation> 12 Monatekeine Angabe
Transformationsoperationen> 18 Monate> 18 Monate
Tabelle: Geforderte Dauer des Alltagstests vor verschiedenen medizin. Maßnahmen

Und warum?

Krankenkassen zahlen selbstverständlich nur, wenn sie das müssen. Aber wie beweist man einen Behandlungsbedarf, wenn es keine körperlichen Symptome gibt? Offensichtlich ist die Selbstbekundung für die Kassen nicht akzeptabel. Es fällt mir zwar schwer, zu glauben, dass Personen nur aus einer Laune heraus ihren Hormonhaushalt manipulieren oder eine Mastektomie machen lassen, aber Krankenkassen können sich das wohl vorstellen. Vermutlich spielt dabei auch eine Rolle, dass man bei Menschen, die ihre Körperlichkeit nicht locker akzeptieren können, ein paar gravierendere Probleme im Oberstübchen vermutet.

Also vertraut man lieber medizinischen Expert*innen, die aber leider auch nicht in die Köpfe schauen können. Deshalb braucht es etwas „hartes“, echtes Verhalten, das nicht mal eben so abgeliefert werden kann. So etwas ist der Alltagstest ohne Zweifel.

Zudem hat er den Gedanken, dass das Ergebnis ja praktisch schon vorweggenommen wird. Der eine oder die andere entdeckt eventuell, dass man auch mit Brüsten ein Mann oder mit Penis eine Frau sein kann und verzichtet auf medizinische Maßnahmen.
Oder eine Person stellt fest, dass Sie eigentlich doch lieber in ihrer ursprünglichen Geschlechtsrolle bleiben kann.

In beiden Fällen hat die Krankenkasse Beitragsgelder gespart.

Zynische Inhalte

Für einige Aspekte des Alltagstests muss man vermutlich Mediziner*in sein, um sie nicht für schlichten Zynismus oder Bosheit zu halten.

Natürlich ist es per se schon boshaft, von Menschen etwas zu verlangen und dabei zugleich die wichtigsten Voraussetzungen für den Erfolg zu verweigern. So sollen Betroffene Hormone erst nach einer Zeit des Alltagstests bekommen, weil sonst die Diagnostik erschwert wird und eine „ungünstige vorzeitige Festlegung auf das gewünschte Geschlecht“ eintreten kann.

Zitat S. 18: „Wird die Hormonbehandlung zu früh begonnen, erschwert sie die psychiatrische Diagnostik einer Transsexualität erheblich. Darüber hinaus entsteht für den Versicherten eine ungünstige vorzeitige Festlegung auf das gewünschte Geschlecht.

Über die Frage, was genau mit den Adjektiven „ungünstig“, „vorzeitig“ und „gewünscht“ gemeint ist und was für eine Einstellung dahintersteht, kann man lange nachdenken. Der „krankheitswerte Leidensdruck“ ist als Voraussetzung anerkannt, doch löst das nicht den Reflex aus, dieses Leiden abzukürzen oder auch nur zu mildern. Dass bei der Abwägung zwischen Leiden der Betroffenen und Leichtigkeit der Diagnostik zugunsten der Diagnostik entschieden wird, ist ebenfalls ein Indiz dafür, dass die Empathie nicht im Zentrum des Denkens steht.

Besonders übel: Wenn es beim Alltagstest zu psychischen Problemen, wie z.B. Depressionen, Drogensucht, Psychosen etc. kommt, dann soll er verlängert werden!

Es gibt noch weitere Faktoren, die aus Sicht der Mediziner*innen zu einer längeren Alltagserprobung führen können[i]:

  • Die betroffene Person ist jünger als 18 oder älter als 60 Jahre
  • Minderbegabung
  • Unzureichende oder fehlende Unterstützung im privaten Umfeld
  • Ungünstige körperliche Voraussetzungen
  • ….

Merkt ihr was? Je belastender und schwieriger der Alltagstest für eine Person ist, desto länger muss er dauern. Wenn das nicht zynisch ist, dann weiß ich auch nicht.

Eine Ente ist eine Ente ist eine Ente

Gleichwohl beharren die Richtlinien darauf, der Alltagstest solle sozialverträglich sein und keinesfalls als „Härtetest“ verstanden werden.

Ich halte mich hier an die „Ententheorie“: wenn etwas quakt und läuft und schwimmt und aussieht, wie eine Ente, dann ist es eine, auch wenn sie anders genannt wird.

Für den Alltagstest bedeutet das, dass er ein Härtetest sein soll und auch einer ist. Ein zynisches und boshaftes Instrument der Krankenkassen Kosten zu sparen, auch wenn es Menschenleben ruiniert.

Es ist ja nicht so, dass die passende Körperlichkeit ein Luxus ist. Er ist für viele eine Notwendigkeit, um vor sich selbst und anderen überhaupt bestehen zu können.

Hinweis zur S3-Leitlinie

Abschließend noch ein Wort zur S3-Leitlinie „Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und Trans-Gesundheit: Diagnostik, Beratung, Behandlung“ von Ende 2018. Leider ist durch diese fortschrittlichere Empfehlung für Behandelnde die Rechtslage für Betroffene nicht verändert. Leitlinien sind lediglich Empfehlungen. Die Krankenkassen sind hinsichtlich ihrer Entscheidungen jedoch an die Richtlinie gebunden, dich ich hier thematisiere . Es ist also durchaus möglich und kommt auch vor, dass Behandelnde in Übereinstimmung mit der S3-Leitlinie Maßnahmen empfehlen und die Kassen unter Verweis auf die Richtlinie die Kostentragung verweigern. Jedes freundlichere Verhalten der Krankenkassen ist Kulanz. Was es braucht, ist eine Neufassung der Richtlinie.



In Alltagstest Teil 2 wende ich mich der Frage zu, welches Denken über Geschlecht und Gender dem Alltagstest zugrunde liegt. Spoiler: Es ist durchaus modern!

Querverbindungen

© Jula Böge 2020


[i] Volkmar Sigusch, Transsexuelle Entwicklungen. In: Sigusch (Hrsg.), Sexuelle Störungen und ihre Behandlung, S. 346-361

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