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Autogynäphilie

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Ein Begriff bringt Transgender zum Ausrasten

Kennst du den Werbespot für dieses französische Auto? Es hält an einer Ampel und daneben hält ein Schulbus. Von oben guckt ein schmächtiger, kleiner Junge in das Auto hinein. Er ist fasziniert. Er schaut auf die Beine der Fahrerin, die ihren leichten Sommerrock weit nach oben geschoben hat. Dadurch sind ihre perfekt geformten, leicht gebräunten Beine mit der makellosen Haut gut zu sehen. Am nächsten Tag wieder und am dritten Tag regnet es, da guckt ein anderer Junge runter und ist genau so fasziniert. Das Cabrio ist zwar geschlossen, aber es hat ein Glasdach, durch das man trotzdem die Beine der Frau sehen kann.

Auf das Auto kommt es für mich nicht an. Mein Fokus ist allein auf diese Szene mit den Beinen gerichtet. Die Kamera zeigt nicht die ganze Frau, sondern nur diese schlanken, glatten Oberschenkel und der Junge im Bus starrt sie an.
Und ich starre ebenso auf diese Oberschenkel und bin fasziniert von ihnen.

Ich bin mir sicher, dass genau hier die Trennlinie zwischen meinem Empfinden und dem anderer Männer liegt. Auch ich finde diese Beine unglaublich attraktiv, genieße die Ästhetik des nach oben geschobenen dünnen Stoffes. Doch während bei den meisten Männern der Genuss des Anblicks Überlegungen auslöst, wie es wohl wäre, diese Beine zu streicheln und den Rest der Frau dazu erotisch zu entdecken, denke ich darüber nach, wie es wohl wäre, solche Beine zu haben, diese wundervolle Haut durch ein Zurückschieben des Rockes den wärmenden Sonnenstrahlen preiszugeben, die Füße mit den lackierten Zehennägeln in Sommersandalen mit leichten Riemchen und ein wenig Absatz. Ich denke darüber nach, wie es wohl wäre, diese Frau sein zu können.

Autogynäphilie ist ein passendes griechisches Fremdwort dafür. Ich möchte selbst gerne die Frau sein, die ich begehrenswert finde. Vielleicht ist das so etwas wie die Suche nach der Perfektion und Vollständigkeit in mir selbst.

Platon war es wohl, der davon ausging, dass Männer und Frauen einst ein Wesen waren, das perfekt war (siehe: Platons Kugelwesen). Dann wurden sie getrennt und seit dem suchen Männer und Frauen nach ihrer verlorenen anderen Hälfte, um wieder ein perfektes Wesen werden zu können.

So könnte es sein und in meiner Imagination werde ich selber für mich zu der Frau, die ich so verehre. Ich kann die Frau aus mir selbst heraus erschaffen, ohne einen anderen Menschen dazu zu brauchen. Dazu benötige ich nur die Kleidung, Makeup und (ja, jetzt doch) andere Menschen, die mir bestätigen, dass diese Frau da ist. Ich brauche diese Frau, aber eben nicht als das Objekt der Begierde, das ich haben möchte, sondern ich habe die Begierde, sie zu sein. Und wie an anderer Stelle dargelegt, sehe ich die manchmal damit verbundene Erregung eben nicht als die Ursache, sondern als eine mir eher unangenehme und peinliche Nebenwirkung.

So weit meine Sicht der Dinge. Ich frage nicht danach, warum ich mir wünsche, diese Frau sein zu können. Ich weiß aber, dass es so ist. Und ich vermute, dass ich dieses Begehren mit vielen Transgendern gemein habe.

Leider kann der Artikel hier nicht enden. Wissenschaftler haben sich des Begriffes Autogynäphilie angenommen und ihn zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Theorie gemacht. Die ganze Sache fängt harmlos und sachlich an und endet (wie häufig in TG-Belangen?) in Hysterie und Chaos.

In Deutschland ist die Lage durch die amerikanische Diskussion so verwüstet, dass in Wikipedia eine heftige Debatte lief, den Artikel zu „Autogynäkophilie“ (so heißt es dort) wegen nachgewiesener Unwissenschaftlichkeit und Menschenrechtsverletzung zu streichen! Und jenseits derer, die die Theorie der Autogynäphilie nicht für einer Diskriminierung von Transgendern halten, gibt es wohl nur die noch größere Gruppe derer, die den Begriff nie gehört haben.

Blanchard

Die Verwendung des Begriffes in der Psychologie geht zurück auf Ray Blanchard, der 1989 basierend auf eigenen Studien aber auch auf historischen Fallbeschreibungen herausgefunden hat, dass es im Unterschied zu der herkömmlichen Festlegung, dass Transsexuelle sich von Transvestiten durch das Fehlen von sexueller Erregung unterscheiden, sehr wohl Transsexuelle gibt, die in ihrer Entwicklung (teils andauernde) Phasen sexueller Erregung hatten bzw. haben. Die Fallbeschreibungen, auf die sich Blanchard stützt, finden sich hier und hier.

Das Phänomen nannte er autogynephilia. Die Erregung ist dabei nicht unbedingt auf weibliche Kleidung fokussiert, sondern der Gedanke, selbst eine Frau zu sein, wird als erregend empfunden.

Mit vielen der dort von Transgendern getroffenen Aussagen kann ich mich gut identifizieren. Sie decken sich mit meinen Erfahrungen und meiner Denkweise.

Das Neue an Blanchards Herangehensweise war, dass es kein Ausschlusskriterium für Transsexualität mehr sein musste, sexuelle Erregung zuzugeben. Außerdem rückten die in der DSM-Taxinomie voneinander getrennten Gruppen der TS und der TV damit zusammen, weil sie eine wichtige Gemeinsamkeit hatten.
Ein lesenswerter Artikel von Blanchard, in dem er sein Konzept erläutert, findet sich hier.

So weit, so interessant. Doch dann wurde sein Konzept von einem anderen aufgenommen und „populär“ gemacht.

Bailey

Mit seinem populärwissenschaftlichen Buch The Man Who Would Be Queen hat er einen Sturm der Entrüstung in der Transgendergemeinde hervorgerufen.

Ohne eigene Forschung, sondern in einer interpretierenden Darstellung von Blanchards Ergebnissen schloss er messerscharf, dass TS entweder homosexuelle Männer sind, die eine Frau werden wollen, um für ihre favorisierten Geschlechtspartner attraktiv zu sein, oder (= alle anderen) nicht-homosexuelle Männer, die durch einen Fehler in der Entwicklung, die geliebte Frau nicht außerhalb ihrer selbst, sondern in sich selbst suchen und finden.

Bailey hat sein Buch dankenswerterweise ins Netz gestellt. Er bittet immer wieder darum, man möge ihn doch im Original lesen, dann würde klar, dass er kein Transenhasser sei. Letzeres möchte ich ihm sogar zugestehen. Aber als ich das zentrale Kapitel seines Buches gelesen hatte, war mir klar, warum praktisch die gesamte Transgendergemeinde in den USA wegen des Buches ausgeflippt ist, und durch die Darstellung vielleicht sogar das gesamte Konzept auf Dauer diskreditiert wurde.

Einige seiner Aussagen (aus dem 9. Kapitel) sind:

  • Die meisten nichthomosexuellen TS sind oder waren durch Crossdressing sexuell erregt, selbst die, die sich als Asexuelle definieren.
  • Die nichthomosexuellen TS gehören nicht mit den homosexuellen TS in eine gemeinsame Gruppe, sondern mit (fetischistischen) Transvestiten. Beide Gruppen kann man unter dem Begriff Autogynäphile zusammenfassen.
  • Autogynäphile unterscheiden sich nur hinsichtlich des Objektes ihrer Erregung. Geht es primär um Kleidung oder weibliche Rolle, dann sind sie Transvestiten. Fantasieren sie davon eine Vulva zu haben oder schwanger werden zu können, dann sind sie TS.
  • Autogynäphile haben keine „innere Frau“, die sie sein möchten, sondern sie sind Männer, die die attraktive Frau, die sie begehren, durch einen Fehler(!) in der Entwicklung in sich selbst suchen. Wenn sie TS sind, wollen sie einfach ihre sexuelle Begierde dadurch stillen, selbst eine Frau zu werden.
  • Autogynäphile sind im Unterscheid zu homosexuellen TS nicht besonders weiblich, weder hinsichtlich ihrer Interessen noch hinsichtlich ihrer Erscheinung. Und was sie an weiblicher Attitüde haben, mussten sie sich mühsam erarbeiten.
  • Autogynäphilie ist eine Paraphilie, wie andere auch. (Paraphilien sind in DSM zusammengefasste Abweichungen vom normalen Sexualverhalten). Autogynäphile gehören also taxinomisch in eine Gruppe mit SMlern, Exhibitionisten, Fetischisten und Pädophilen.
  • Weil Paraphilien häufig nicht alleine auftreten, haben Autogynäphile eine gute Chance zugleich auch weitere sexuelle Abweichungen zu haben. Dass Bailey als Beispiel auch Pädophilie nennt und hinzufügt, weil solche Themen geheimgehalten würden, würde man die Wahrheit wohl nie erfahren, macht die Sache erst richtig schrill.
  • Die meisten Patienten mit gestörter Geschlechtsidentität lügen, wenn es um die Frage ihrer sexuellen Erregung geht.

Was ich ehrlich nicht verstehe, ist folgendes: Wie kann Bailey so irritiert darüber sein, dass die meisten Transgender anlässlich solcher Aussagen hysterisch werden?

Mich haben die Aussagen nachdem ich mich abgeregt hatte, in eine eher depressive Selbstwahrnehmung gestürzt. Bin ich wirklich nichts anderes als ein heterosexueller Mann, der sein sexuelles Wunschobjekt durch einen Schaltfehler in sich selbst sucht?

Was ist falsch?

Die von Blanchard gesammelten Fakten kann und will ich nicht bestreiten. Die klassische Sicht der Dinge, für die das Vorhandensein von sexueller Erregung so etwas wie ein Ausschlusskriterium für Transsexualität ist, wird dadurch in Frage gestellt.

Auch die erste Folgerung, dass nämlich Transsexuelle und Crossdresser bzw. Transvestiten sich (anders als das ICD10 nahelegt) nicht kategoriell, sondern eher graduell voneinander unterscheiden, würde ich noch teilen, auch wenn mir dadurch die ersten Transsexuellen unter meinen Leserinnen ihre Zustimmung verweigern.

Aber die ganzen weiteren Folgerungen, insbesondere die simplifizierende Zuspitzung von Bailey, lehne ich ab.

Wo liegen die Fehler?

  • Wenn die sexuelle Erregung wirklich das Ziel ist, um das sich alles dreht, wieso empfinden dann Transsexuelle das Ausbleiben der Erregbarkeit als so befreiend? Kann es wirklich der schrillste erotische Kick sein, körperlich keinen erotischen Kick mehr erfahren zu können?
  • Lügen wirklich alle transidenten Menschen (und z.B. auch ich ohne mir dessen bewusst zu sein), wenn sie sagen, die eventuell auftretende Erregung erfülle sie mehr mit Scham als mit Freude und sei keinesfalls der Grund weshalb sie das alles tun? Und wenn es wahr ist, warum ist es dann für die Theoriebildung bedeutungslos?
  • Das Konzept (in Baileys, aber auch Blanchards Version) basiert auf der Grundannahme festgefügter dualer Geschlechter mit bestimmten sexuellen Vorlieben. Die Basiseinordnung für Autogynäphile ist „heterosexueller Mann“, wobei der Begriff Mann aus dem genetischen bzw. somatischen Geschlecht abgeleitet wird. Wie ich im Rad der Geschlechter beschrieben habe, halte ich dieses Konzept wenn schon nicht für falsch, dann doch zumindest für diskussionswürdig.
  • Auch die Protagonisten der Autogynäphilie verfallen in den Fehler der klassischen theoretischen Einordnung der abweichenden Geschlechtsidentität, in dem sie den Fokus nicht auf die Identität und ihre Quellen richten, sondern auf die sexuellen Nebenfolgen. Für jeden „normalen“ Mann und jede „normale“ Frau ist akzeptiert, dass ihre Identität nicht von ihren sexuellen Neigungen geprägt wird. Weder Blanchard noch Bailey erklären, warum das bei Transgendern anders sein soll. Und ich bestreite, dass sich die Identität nach sexuellen Vorlieben richtet.

Schade um diesen schönen Begriff, der für mich so viel erklären könnte, wenn Bailey mit seiner abstrusen Reduktion auf die sexuellen Aspekte nicht die Diskussion so gut wie unmöglich gemacht hätte.

   © Jula 2006

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