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Das Dritte Geschlecht

  • von
Genderqueer-Flagge

Eine Besprechung des Beschlusses des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Oktober 2017 – 1 BvR 2019/16 –
Fundstelle: http://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2017/10/rs20171010_1bvr201916.htm

Teil 1: Von Pilzen und Menschen

Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts ist bemerkenswert.

Vordergründig geht es darin um die Durchsetzung von Freiheits- und Gleichheitsrechten für eine relativ kleine Gruppe in der Bevölkerung und um das wenig spannende Thema Personenstandsrecht.

Tatsächlich hat sich mit dieser Entscheidung etwas Wesentliches in unserem Staat verändert. Um das zu erläutern, möchte ich zunächst über Pilze reden.

Pilze sind keine Pflanzen!

Ich habe in der Schule noch gelernt, dass es zwei große Reiche von mehrzelligen Lebewesen gibt: die Pflanzen und die Tiere. Demzufolge war jedes mehrzellige Lebewesen entweder eine Pflanze oder ein Tier. Pilze waren in diesem System den Pflanzen zugeordnet.

Inzwischen sieht die Wissenschaft das anders. Man weiß mehr über Pilze und ihre Besonderheiten. Man kam zu der Erkenntnis, dass Pilze keine Pflanzen sind. Wenn man sie schon einem der beiden Reiche zuordnen muss, dann sind sie den Tieren ähnlicher. Doch auch das passte nicht wirklich.

Also kam man zu dem Entschluss, dass sie ein eigenes Reich bilden. Jetzt ist ein mehrzelliges Lebewesen eben nicht mehr entweder Pflanze oder Tier, sondern Pflanze, Tier oder Pilz.
Ich denke, diese Veränderung ist an den meisten Menschen, die sie nicht schon in der Schule gehört haben, vorbeigegangen. Die wenigsten von uns beschäftigen sich später noch mit wissenschaftlichen Klassifikationen. Zudem glauben wir auch, dass sich an dem in der Schule Gelernten, später nichts Wesentliches mehr ändert.

Was hat das mit dem Beschluss des BVerfG zu tun?

Der Fortschritt in der wissenschaftlichen Erkenntnis hat dazu geführt, dass die Pilze nun anders kategorisiert sind. Das gleiche hat sich in den letzten Jahrzehnten, wiederum von den meisten Menschen unbemerkt, im wissenschaftlichen Verständnis von Geschlecht ereignet.

Bis ins späte 20. Jahrhundert hinein glaubte man noch, dass jede Person eindeutig Mann oder Frau ist. Eventuell auftretende Ausnahmen von dieser Regel wurden als (behandlungsbedürftige) krankhafte Abweichung eingestuft. Die Mediziner*innen und Biolog*innen haben erkannt, dass es mit dem biologischen Geschlecht nicht so einfach ist, wie es die gesellschaftliche Kategorisierung behauptet.

Der rechtliche Personenstand bzw. das dahinter stehende gesellschaftliche Modell von Gender ist bezogen auf Geschlecht das gleiche, was in der Biologie die Taxonomie für die Lebewesen ist. Ein Zuordnungsmodell.

Das BVerfG hat nichts anderes getan, als die juristischen Schlussfolgerungen aus der Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnis zu ziehen.

Den Pilzen ist das übrigens egal. Sie sind und waren immer so, wie sie halt sind. Verändert hat sich nur die Kategorie, die wir Menschen ihnen zuordnen. Das ist ein wichtiger Punkt. Denn es geht auch bei dem, was das Verfassungsgericht beschlossen hat, nicht darum, was die Personen sind. Es geht nur darum, wie sie sich vom Staat kategorisieren lassen müssen.

Wenn die Biolog*innen die gleiche Lösung gewählt hätten, wie der deutsche Gesetzgeber beim Geschlecht im Personenstandsgesetz, dann hätten sie gesagt: wenn die Pilze weder Pflanzen noch Tiere sind, dann sind sie halt gar nichts!

Den Pilzen wäre es egal gewesen, wenn man gesagt hätte, dass sie eben gar nichts sind, wenn sie keine Pflanze oder kein Tier sind. Das ist bei den Menschen, die von der Geschlechts- bzw Genderthematik betroffen sind, ganz anders. Für uns ist es extrem wichtig, was wir sind und was wir nicht sind. Und hinnehmen zu müssen, dass das was wir sind, von der Gesellschaft als „garnichts“ behandelt wird, ist eine Verletzung unserer Menschenrechte und Grundrechte.

Den Pilzen wäre es auch egal gewesen, wenn wir sie entweder den Pflanzen oder den Tieren zugeordnet hätten. Das war aber wiederum den Hütern der Taxonomie nicht egal. Die muss schon so gut wie möglich die Realität wiedergeben.

Auch das ist bei uns Menschen etwas anders. Wir haben offensichtlich die Situation, dass ein System, nämlich unser strikt binäres Gendermodell, wichtiger genommen wird, als die Realität, die es doch angeblich bloß beschreibt. Deshalb musste das Verfassungsgericht sehr viel argumentieren um seine Entscheidung zu rechtfertigen. Wie gefestigt das bisherige Modell ist, kann man auch daran erkennen, dass die Vorinstanzen keine Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Regelungen hatten! Weil sie das binäre Gendermodell als selbstverständlich angesehen haben, haben sie keinerlei Anlass gesehen, gem. Art. 100 GG vorzulegen.

Im Ergebnis hat das BVerfG eine bemerkenswerte Entscheidung getroffen: Wir Menschen in Deutschland müssen uns künftig nicht mehr entscheiden, ob wir Mann oder Frau oder garnichts sind. Wenn wir uns eindeutig zuordnen können ist es fein. Aber wir müssen nicht länger Menschen zweiter Klasse sein, wenn wir es nicht können. Wir haben das Recht, gemäß unserer Identität Frau zu sein, Mann zu sein oder auch etwas anderes.

Teil 2 Ein genauerer Blick auf den Beschluss

Ich nehme keine systematische, juristisch-wissenschaftliche Analyse vor, sondern greife einige aus meiner Sicht besonders relevante Aspekte heraus.

Welche Inhalte sind besonders relevant?

  • Die Akzeptanz der wissenschaftlichen Erkenntnis

Das BVerfG distanziert sich eindeutig von dem Modell, dass jede Person zwingend Mann oder Frau sein muss. Es folgt dem Stand der medizinischen/biologischen Erkenntnis, dass es eben nicht ausschließlich zwei Geschlechter gibt, sondern auch Varianten, die etwas Eigenes und keine krankhafte Anormalität sind.

In dem Urteil wird klargestellt, dass das GG nicht auf das noch vorherrschende Modell von Geschlecht und Gender festgelegt ist. Eindeutig die Formulierung in RN 50:“Das Grundgesetz gebietet nicht, den Personenstand hinsichtlich des Geschlechts ausschließlich binär zu regeln.

Das Gericht mahnt an, die rechtliche Situation dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis anzupassen. Das Modell, das voraussetzt, dass jede Person eindeutig entweder Mann oder Frau ist, ist nach derzeitigem Stand nicht haltbar und darauf muss die Rechtswirklichkeit reagieren. Blöd nur, dass die Breite der Gesellschaft das bisher nicht wahrhaben will.

Es ist wohl so wie auch bei anderen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Es dauert eine Weile, bis sie zum gesellschaftlichen Allgemeingut geworden sind. Deshalb glauben viele Menschen auch immer noch, dass Pilze Pflanzen sind (siehe Teil 1)

  • Das Betonen der Identität

Die wichtige Formulierung ist „Personen, die sich dauerhaft weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen lassen“. Was genau ist damit gemeint? Auf jeden Fall (das war auch der zu entscheidende Fall) trifft dies auf Intersexuelle Menschen zu. Das sind solche Personen, die aufgrund genetischer Ursachen körperlich nicht eindeutig sind.

Aber was ist mit Trans*personen? Sind die ebenfalls in ihrer geschlechtlichen Identität geschützt? Dagegen scheint zu sprechen, dass es bei dem Verfahren um das Anliegen einer intersexuellen Person ging. Folglich war zunächst nur deren Situation Gegenstand.

Doch es gibt Ansätze für eine weitergehende Interpretation. Das BVerfG stellt in seiner gesamten Argumentation nicht die körperliche Situation in den Mittelpunkt, sondern immer die Identität bzw das konkrete Empfinden der einzelnen Person. Zudem ist in der Argumentation des BVerfG nirgends davon die Rede, dass die Unmöglichkeit der Zuordnung auf einer körperlichen Ursache beruhen muss. Außerdem wird in der Begründung sehr häufig auf Transpersonen und deren Situation sowie auf Entscheidungen zum TSG Bezug genommen.

Ich verstehe das Urteil so, dass dem BVerfG die Frage nach dem Warum egal ist. Wichtig ist nur das Faktum: Es gibt Menschen, die sich nicht eindeutig zuordnen lassen. Und diese werden von Art. 2 und Art. 3 GG in ihrer Diversität geschützt. Die alleinige Auswahl, entweder Mann oder Frau oder garnichts sein zu müssen, verletzt sie in ihren Rechten.

  • Der Hinweis auf die einfache Lösung: Abschaffung des Geschlechtseintrages.

Das steht nicht nur in einigen Stellungnahmen beteiligter Organisationen. Auch das Gericht selbst weist mehrfach darauf hin, dass der Gesetzgeber durchaus auf dieses Merkmal beim Personenstand verzichten kann. Es deutet sogar an, dass das vermutlich die einfachste und beste Lösung wäre.

Das BVerfG setzt sich in diesem Zusammenhang auch mit der Frage auseinander, warum das Geschlecht überhaupt als Teil des Personenstandes erfasst wird. Im Kern stellt es fest, dass das Merkmal Geschlecht im PStG nicht deshalb steht, weil es so relevant ist, sondern umgekehrt: es ist relevant, weil es im PStG steht. Stände es nicht drin, wäre es auch okay.

  • Die implizite Kritik am Gesetzgeber

Bei der Darstellung des Problems arbeitet das BVerfG heraus, dass die Regierung aus verschiedenen Gründen (UN, Gutachten, Koalitionsvertrag) Anlass hatte, das PStG gründlicher und fortschrittlicher zu regeln, als es das bei der letzten Reform getan hat.

Auch das jahrelange Ringen um eine Neuregelung des TSG zeugt von einer gewissen Drückebergerei. Den Parteien ist vermutlich nur allzu bewusst, dass eine verfassungsmäßige Gestaltung der Rechtsordnung im Hinblick auf Gender Folgen hätte (insbesondere im Familienrecht), die man vielen Menschen nur schwer erklären könnte. Da die Politiker*innen aber volksnah erscheinen möchten, tun sie an diesen Stellen lieber nichts. Siehe dazu auch Wen schützt das TSG?

  • Die Argumentation zu Artikel 3 und dem Diskriminierungsschutz

Das BVerfG räumt in dem Urteil gründlich mit der Argumentation auf, dass es in Deutschland nur Männer oder Frauen geben könne, weil Artikel 3 entsprechend formuliert sei.

So schreibt das Gericht in RN 58 mit einer langen Latte von Belegstellen:„Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG schützt nicht nur Männer vor Diskriminierungen wegen ihres männlichen Geschlechts und Frauen vor Diskriminierungen wegen ihres weiblichen Geschlechts, sondern schützt auch Menschen, die sich diesen beiden Kategorien in ihrer geschlechtlichen Identität nicht zuordnen, vor Diskriminierungen wegen dieses weder allein männlichen noch allein weiblichen Geschlechts.

Und weiter in RN 60: „In systematischer Hinsicht besteht kein Widerspruch zum Gleichberechtigungsgebot des Art. 3 Abs. 2 GG, das nur von Männern und Frauen spricht.

Auch für den Diskriminierungsschutz z.B. über AGG braucht es die Kategorien Mann und Frau nicht. Schließlich funktioniert der Diskriminierungsschutz wegen Rasse oder Alter auch, ohne dass man dafür z.B. die Rasse im PStG kategorisieren müsste.

Was ist schwierig?

Im Wesentlichen nur, dass das BVerfG dauernd von Geschlecht spricht, selbst wenn es gar nicht die Biologie, sondern offensichtlich die soziale Situation und damit Gender meint. Während sich die aktuelle naturwissenschaftliche Sicht auf Geschlecht beim Verfassungsgericht schon durchgesetzt hat, tut es sich mit der Differenzierung zwischen Geschlecht und Gender noch schwer, obwohl dies die Argumentation doch deutlich verständlicher gemacht hätte.

Und nun?

So weit das Urteil des BVerfG. Doch was passiert nun?

Gemäß der Entscheidung hat der Gesetzgeber bis zum 31.12.2018 Zeit, ein verfassungsgemäßes Personenstandsgesetz zu formulieren. Nachdem aufgrund der Entscheidung zur „Ehe für Alle“ das Geschlecht der Ehepartner für die Eheschließung nicht mehr relevant ist, bietet sich an, im Personenstand einfach auf das Merkmal des Geschlechts zu verzichten.

Diese Lösung scheint das BVerfG als einfachste auch anzubieten. Jedenfalls hat es mehrfach gesagt, dass man das tun könnte. Vorgeschrieben hat das BVerfG diese Lösung jedoch nicht. Man kann es also auch ganz anders machen. Bloß Menschen, die sich nicht eindeutig einem Geschlecht zuordnen können als „Nullum“ zu kategorieren, das geht nicht mehr.

Jedenfalls liegt der Ball nun im Feld des Gesetzgebers. Wenn ich bedenke, welches jahrelange Gekrampfe die Forderung nach einer verfassungsmäßigen Regelung des Rechts für Transpersonen ausgelöst hat, habe ich Zweifel, ob das im Jahr 2018 funktionieren kann.

Doch das eigentliche Problem liegt an anderer Stelle, nämlich in der Gesellschaft. Die teils heftigen Reaktionen auf das Urteil im Netz zeigen, dass viele Menschen nicht bereit sind, einfach so auf das schlichte Gendermodell „entweder Frau oder Mann“ zu verzichten.

Während der Staat und damit die Rechtsordnung nicht umhin können, sich der wissenschaftlichen Erkenntnis und deren Auswirkungen auf die Rechtssituation zu stellen, kann das den Menschen egal sein. Die Folge wird schlimmstenfalls ein Auseinanderfallen von Rechtssystem einerseits und gesellschaftlichem Verständnis andererseits sein. Die Rechtsordnung wird die Genderdiversität anerkennen (müssen), die Breite der Gesellschaft wird versuchen, sie zu ignorieren und vielleicht mit einer Entfremdung von der Rechtsordnung reagieren. Das könnte noch schwierig werden. Andererseits: bei der Ehe für Alle ging es ja plötzlich auch ganz schnell und unkompliziert.

Außerdem bleibt da noch das Problem der Sprache. Wenn es eine anerkannte Personengruppe gibt, muss man irgendwie von ihr reden können. Die deutsche Sprache kennt jedoch nur männliche oder weibliche Personalpronomen. Das ist übrigens auch etwas, das neben den Toiletten viele Kritiker des Urteils umtreibt. Bisher werden Personen, die sich über eine genderdiverse Sprache Gedanken machen, noch als „Gendertaliban“ oder ähnliches beschimpft. Dass so etwas klappen kann, wenn man es denn will, sieht man an Schweden. Dort gibt es z.B. inzwischen ein geschlechtsneutrales Personalpronomen für Personen, die nicht eindeutig weiblich oder männlich sind. In Deutschland ist das heute noch unvorstellbar.

Es bleibt spannend. Der Beschluss des BVerfG ist kein Endpunkt in der staatlichen und gesellschaftlichen Debatte um Geschlecht und Gender, sondern ein wichtiger Meilenstein auf einem Weg, der noch nicht zu Ende ist.

Querverweise

© Jula Böge 2017

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