Prokrastination
Ein neues Wort hat es vom Englischen ins Deutsche geschafft: procrastination. Es gibt auch ein Deutsches Wort dafür. Es lautet „Aufschieberitis“.
Sicher kennen das viele von uns. Man hat eine unangenehme Aufgabe zu erledigen und statt sie anzugehen, fallen einem 1000 andere Dinge ein, die noch schnell gemacht werden könnten und die eigentliche Aufgabe bleibt liegen.
Besonders häufig tritt dieses Phänomen an einer bestimmten Stelle auf und ich selbst bin Betroffene. Es ist die jährliche Steuererklärung. Jahr für Jahr, wenn ich sie (viel zu spät) abgegeben habe, nehme ich mir vor, dass mir das im nächsten Jahr nicht wieder passiert und dass ich sie gleich am Jahresanfang erledige. Und ebenso regelmäßig mache ich mich erst nach der dritten Mahnung und dem Eingang der ohne mein Zutun erstellten Steuerfestsetzung, die zu meinem Entsetzen wieder viel zu hohe Einnahmen zugrundelegt, an die Arbeit. Strafgebühren sind zu diesem Zeitpunkt natürlich schon längst angefallen.
So wie mir ergeht es vielen. Sie können sich nicht überwinden die Steuerklärung zu machen, obwohl sie wissen, dass sie Geld herausbekommen werden und es eigentlich nicht so viel zu tun gibt.
Erstaunlicherweise haben wir beim Anblick der Steuerformulare und auch der Mahnungen eben nicht den Drang, endlich die Belege zusammenzusuchen und den Kram zu erledigen. Nein, stattdessen befällt uns der dringliche Wunsch, endlich mal wieder den Kleiderschrank aufzuräumen, die Fenster zu putzen, die Einmachgläser im Keller zu sortieren, zu bügeln oder das Bücherregal neu zu ordnen.
Wieso?
Weshalb haben wir den Drang völlig unproduktive Dinge zu tun, statt durch Ausfüllen eines simplen Formulares dem Staat das Geld wieder abzunehmen, das wir ihm im vergangenen Jahr zu viel gezahlt haben? Wieso handeln wir so eklatant gegen unsere eigenen Interessen?
Das kann doch kein Zufall sein, dass uns die Aufschieberitis gerade an diesem Punkt so trifft und uns gegen unsere eigenen Interessen handeln lässt?
Nervengift!
Ist es auch nicht! Nach gründlicher Überlegung gibt es für mich nur eine sinnvolle Erklärung: Die Finanzbehörden versetzen die Formulare und auch die Mahnschreiben, die uns angeblich motivieren sollen, die Erklärung zu erledigen mit einem Gift, das unser neuronales System dazu bringt, plötzlich andere Dinge für wichtiger und dringlicher zu halten.
Die Aufschieberitis ist wirklich eine Krankheit. Sie ist eine Vergiftung, die uns von den Geldeintreibern des Staates beigebracht wird und akute Schübe von Aufschieberitis auslöst.
Vermutlich wirkt das Gift über den Hautkontakt oder wird als Ausdünstung des Papiers über die Atemluft aufgenommen. Jedenfalls meine ich, dass das von den Finanzämtern genutzte Papier einen speziellen Geruch hat. Und kaum habe ich diesen Geruch wahrgenommen, befällt mich der Drang, das Büro zu verlassen und etwas anderes, mir sehr dringlich vorkommendes zu erledigen. Der Drang ist so stark, das plötzlich sogar ansonsten unattraktive Tätigkeiten (zB Keller aufräumen) als interessante und eigentlich dringlichere Alternative zur Steuererklärung erscheinen.
Ich gebe zu, dass die Nebeneffekte durchaus positiv sind und dadurch meine Wohnungsfenster häufiger geputzt und mein Auto häufiger ausgesaugt werden, was mich hinterher auch freut, wenn ich den Glanz und die Sauberkeit genieße. Doch erkauft ist diese Freude mit finanziellen Nachteilen!
Kritische Fragen
Wer eine solche, auf den ersten Blick abstrus erscheinende Behauptung aufstellt, der sollte sich auf kritische Nachfragen und Einwände einstellen. Das habe ich natürlich getan und gehe im folgenden auf die Wichtigsten ein.
Warum sollte das Finanzamt das tun?
Das Motiv liegt klar auf der Hand. Weil der Staat davon finanzielle Vorteile in Millionen- wenn nicht sogar Milliardenhöhe hat. So viel Geld, dass den Finanzämtern monate- oder sogar jahrelang zu Verfügung steht. Zinsfrei! Gar nicht zu reden von den Säumnisgebühren und Zwangsgeldern, die erhoben werden und die es ohne die Aufschieberitis bei Steuererklärungen nicht gäbe. Alleine das sind Beträge von mehreren Hundert Millionen!
Um was für ein Gift handelt es sich?
Das weiß ich auch nicht genau, denn ich bin keine Chemikerin. Aber ich weiß, dass da etwas sein muss, denn die Wirkung ist unbestreitbar!
Ein weiteres Indiz ist das Papier, das die Finanzämter verwenden. Das ist definitiv nicht das normale Papier „80g, holzfrei, weiß“, das wir in unsere Drucker füllen. Ich habe dieses Papier noch nirgendwo anders gesehen. Das ist eine Spezialanfertigung! und ich vermute, das bei der Herstellung aufgebrachte Gift führt zu der spezifischen hässlichen Graufärbung und dem unangenehmen haptischen Erlebnis, das wohl jeder beim Anfassen eines Finanzamtschreiben erlebt hat und einem direkt leise Schauer über den Rücken jagt.
Wieso werden nicht auch Steuerbeamte krank?
Eine berechtigte Frage, auf die es mehrere Antworten gibt.
- Hypothese: eventuell gibt es ein Gegengift oder eine Art Schutzimpfung, die Finanzbeamte immun machen.
- Hypothese: Durch den ständigen Kontakt mit dem Gift tritt eine Desensibilisierung ein, die dazu führt, dass seine Wirkung ausbleibt.
- Hypothese: Die Steuerbeamten werden auch krank! Was erklären würde, warum manche Steuererklärung mit den erwartet hohen Rückzahlungen so lange auf sich warten lässt.
Wieso können Steuerberater dann trotzdem arbeiten?
Im Grunde gelten die gleichen Hypothesen wie bei den Finanzbeamten. Ergänzend kommt dazu, dass es in Steuerberaterbüros vermutlich viel weniger Gegenstände gibt, an denen man die Aufschieberitis ausleben kann. Es gibt keine zu sortierenden Einmachgläser oder Wollreste, wie daheim. Und außerdem ist da noch der Chef der dem nachhaltigen Sortieren der Büroklammern gegebenenfalls unter Hinweis auf arbeitsvertraglich geschuldete Aktivität Einhalt gebietet.
Wieso gibt es Menschen, die immer ganz früh ihre Steuererklärung abgeben?
Offensichtlich reagieren nicht alle Menschen gleich intensiv. Manchen macht es einfach nichts aus. Es soll sogar welche geben (ich persönlich kenne keines dieser Exemplare), die sich gerne auf die Steuererklärung stürzen.
Die wohl beste Erklärung ist Immunität. Es gibt Menschen, die sind auf Katzen oder Milch allergisch und andere eben nicht. Und so scheint es auch welche zu geben, die auf das „Steuererklärungs-Aufschieberitis-Gift“ nicht ansprechen. Sie sind immun.
Eventuell kommt noch eine gewisse „Geneigheit“ hinzu. Es gibt nunmal Menschen, die das sprichwörtliche „Gemüt eines Fleischerhundes“ haben. Die sind durch ein paar Mikrogramm eines geheimnisvollen Giftes nicht von ihren Plänen abzubringen und nehmen daher mit freudiger Aktivität ihre Interessen wahr.
Wie machen die das, wenn es doch elektronische Steuererklärungen gibt?
Das Gift ist nicht bloß auf den Formularen. Es ist in jedem Stück Papier enthalten, das wir von einem Finanzamt bekommen! Wenn man die Formulare anfasst, ist es ja eventuell sowieso schon zu spät. Vielleicht sind gerade die sogar giftfrei, was eine weitere Erklärung für die vermutete Symptomfreiheit von Finanzbeamten und Steuerberatern wäre.
Wieso ist das Gift nicht längst bekannt?
Der Grund ist einfach: weil niemand je danach gesucht hat! Oder kennst du jemanden, der je auf die Idee gekommen wäre, die Schreiben vom Finanzamt toxikologisch untersuchen zu lassen?
Und selbst wenn, das der Fall wäre, bin ich mir nicht sicher, ob dabei etwas herauskäme. Es ist schwer etwas zu finden, wenn man nicht weiß, wonach man suchen soll.
Was tun?
Jetzt wo die hinterhältige Verschwörung des Staates offensichtlich geworden ist, stellt sich die Frage: „Was kann ich tun?“
Leider ist die einfachste Lösung nicht umsetzbar. So attraktiv es auch erscheinen mag, für uns brave Staatsbürgerinnen und Steuerzahlerinnen ist es nicht möglich, den Kontakt mit dem Finanzamt und seinen Briefen komplett zu meiden.
Auch die Hoffnung, über eine Veröffentlichung des Skandals Abhilfe zu schaffen, ist illusorisch. Niemals könnte der Staat zugeben, was er bzw seine Steuerbehörde da tut. Sie werden alles abstreiten und weitermachen wie gehabt. Allein der Versuch des Nachweises der Vergiftung, würde bei so viel Widerstand Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern. Da muss man bloß daran denken, wie lange es dauerte, bis die Tabakindustrie zugegeben hat, dass Zigaretten eventuell gesundheitsschädlich sein könnten. Nein, das ist – wenn es überhaupt eine ist – keine schnelle Lösung.
Also bleibt nur die Selbsthilfe. Ich empfehle dringlich, Schreiben vom Finanzamt und Steuerformulare nur unter gesicherten Bedingungen und Verwendung von Schutzausrüstung zu öffnen und zu bearbeiten. Gummi- oder zumindest Latexhandschuhe sind notwendig, damit der direkte Hautkontakt vermieden werden kann. Falls das Gift über die Atemwege aufgenommen wird, ist auch eine Atemschutzmaske unbedingt empfehlenswert. Sonstige Schutzkleidung, die das Aufnehmen des Giftes über die Haut unterbindet, empfehle ich zumindest ängstlichen Menschen und solchen, die gerne sicher gehen wollen.
So gerüstet werden wir zum Entsetzen der Finanzämter nächstes Jahr unsere Steuererklärung früher abgeben! Selbst um den Preis, dass dafür der Rasen einmal weniger gemäht und das Auto einmal weniger gewaschen wird!
Du bist gewarnt!
Du wirst mich eventuell für eine Spinnerin halten. Doch was, wenn ich Recht hätte? Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt!
© Jula 2012