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Drang nach Wahrheit

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Gelebte Transidentität und Ethik

Transgender, die wie ich beanspruchen, in der Geschlechtsrolle am öffentlichen Leben teilzunehmen, die ihrer Identität entspricht, stehen immer ein wenig im Verdacht, etwas moralisch bedenkliches zu tun. Das merkt man auch daran, dass die Mehrheitsgesellschaft in Deutschland zwar grundsätzlich bereit ist, uns Toleranz zuzugestehen, sich aber mit echter Akzeptanz nach wie vor schwer tut (siehe dazu Toleranz ist nicht genug!).

Wenn wir uns anderen Menschen mit unserer Besonderheit öffnen, dann wird uns häufig Egoismus unterstellt, eventuell sogar Rücksichtslosigkeit. Mir ist von Personen, die mich lange nur als Mann kannten und die ich dann mit mir als Frau konfrontiert hatte, schon mal gesagt worden “Du ziehst dein Ding gnadenlos durch!

Mein Ding? Ja, natürlich ist es mein Thema. Ich habe es mir zwar nicht ausgesucht und kann es auch nicht loswerden, aber das ändert nichts daran, dass es meins ist. Warum muss ich es unbedingt auch zum Thema von anderen Menschen machen?

Die eine Seite habe ich bereits beleuchtet: Ich brauche als soziales Wesen andere Menschen, die mir meine Existenz bestätigen. Siehe dazu ausführlich Ich muss raus! und Feedback.

So betrachtet, ist mein öffentliches Leben als Frau tatsächlich eine egoistische Sache. Wobei ich das aber gar nicht falsch finden kann, denn Menschen haben nun mal Bedürfnisse. Wenn jemand durstig ist, dann sagt niemand, es sei egoistisch, wenn er trinken möchte. Ja, ich brauche andere Menschen für die Bestätigung meines Selbstbildes und meiner Identität. Das ist ganz normal, das brauchen alle Menschen.

So viel zum Egoismus. Es gibt aber noch eine andere Triebkraft, die uns zur Offenlegung unserer Transidentität bringt. Und die ist sogar rundum positiv zu werten:
Es ist das Bedürfnis nach Ehrlichkeit.

Wenn ich unsichtbar geblieben wäre, dann wäre die Wahrheit verborgen geblieben und das konnte ich nicht erlauben.“ sagt Sonmi 451, eine Figur in den Film Cloud Atlas in Kenntnis der Tatsache, dass sie dieses Geständnis das Leben kosten wird.

Wenn ich als erkennbar körperlicher Mann also das Bedürfnis habe, meine Identität nach außen zu zeigen, dann hat das auch etwas mit Ehrlichkeit zu tun. Ich will ehrlich sein! Vielleicht muss ich das sogar.
Warum? Vermutlich, weil wir soziale Wesen sind und Lügen langfristig nicht gut für die Gemeinschaft sind.

Aber was ist bei Personen wie mir überhaupt die Wahrheit? Vermutlich gibt es eine Menge Menschen, die es eher als Täuschung auffassen, wenn ich mich ihnen als Frau präsentiere.

Eigentlich und scheinbar

Eigentlich bist du doch ein Mann!“ ist der Satz in Bezug auf meine Situation, den ich wohl am meisten hasse.

Dieses schreckliche „eigentlich“ definiert mich ohne Chance auf Entrinnen über meinen Körper und stößt mich darauf, dass nicht ich bestimme, wer oder was ich bin, sondern andere Menschen aufgrund meiner Erscheinung. Grundlage dafür ist die vereinfachende Annahme, man habe sein Geschlecht qua Geburt und allein aufgrund seiner Genitalien.

Dieser Zuweisung könnte ich nicht einmal dann entkommen, wenn ich meine Genitalien meinem Identitätsgeschlecht operativ angleichen lassen würde. Viele post-operative Transsexuelle, die das glauben, mussten ernüchternde Erfahrungen machen. Eigentlich haben sie zwar nun die „richtigen“ Genitalien, aber trotzdem werden sie nicht als „richtige“ Frauen akzeptiert. Denn es gibt so etwas wie eine „ad hoc Klarstellung“, dass operativ konstruierte Geschlechtsteile nicht zählen. Siehe dazu ausführlich Thalia Bettcher in ihrem der Aufsatz „Evil Deceivers And Make Believers“. Trotz ihres genitalen Status bleiben diese Personen für eine relevante Zahl von Menschen „eigentlich“ Männer bzw. Frauen.
Richtig ist, dass ich nur „scheinbar“ ein Mann bin. Mein Körper erweckt den Anschein, als wäre ich ein Mann, doch in Wirklichkeit bin ich es eben nicht. In Wirklichkeit, also eigentlich bin ich eine Frau, auch wenn man das anscheinend nicht so leicht sieht. Ausführlicher zu diesem Thema Körpergefühl.

Wer bin ich wirklich?

Wir haben es also mit zwei Wirklichkeiten zu tun. Der Wirklichkeit meines Körpers und der Wirklichkeit meiner Identität. Welche ist die richtige?

Meine Selbstdefinition weicht diametral von der Fremddefinition ab, weil ich mich über mein Inneres definiere und meine Umwelt über meine äußere Erscheinung. Das führt direkt zu einer Frage: Wer bestimmt, wer ich bin?

Einen guten Zugang zur Lösung diese Dilemmas bietet Thalia Bettchers Konzept der First Person Authority (FPA). Und deren Antwort aus ethischer Perspektive ist eindeutig:
Ich!

Zunächst möchte ich erklären, was diese FPA überhaupt ist.

Definition: “FPA is the thesis, that the frist person introspective judgements that we make about the contents of our own occurent thoughts are on a qualitatively better epistemic footing than the third person perceptual judgements we make about the external world.
(Quelle: Standford Encyclopedia of Philosophy, Self-Knowledge)

Einfach gesagt: Niemand weiß besser wer ich bin, als ich selbst, weil ich die beste Datenbasis habe! Andere Personen haben lediglich Vorurteile über mich, die auf den ihnen zugänglichen Informationen beruhen.

Wenn also jemand öffentlich eine Haltung bekennt, dann hat die “erste Person” in gewissem Sinn einen sozialen Bereich abgesteckt und eine Sichtweise von sich bereitgestellt, auf die wir vertrauen können. Eine Haltung zu bekennen führt zu einem autorisierten Blick auf das Innenleben einer Person, der weiter verwendet werden darf. Deshalb haben Selbstbekenntnisse so einen großen Wert für die Fremdinterpretation.

Selbstbekenntnis versus Körper

Im Zweifel sind der Körper und damit die Genitalien die entscheidenden Kriterien für die Zuweisung einer Geschlechtsrolle durch andere Menschen. Die Genitalien sind letztlich sogar wichtiger als der Chromosomensatz, wie sich anhand der XY-Frauen zeigen lässt, die genetisch eindeutig männlich sind, aber aufgrund einer Androgenresistenz weiblich aussehen.

Allerdings verlangt unsere Gesellschaft, dass die Genitalien vor der Öffentlichkeit verborgen werden. Deshalb tritt die  geschlechtsspezifische Selbstpräsentation bei uns an deren Stelle. Sie ist letztlich nichts anderes als ein Selbstbekenntnis, eine kommunikative Botschaft, wer ich bin. Welche Botschaft schulde ich? Die Botschaft, welche Genitalien ich habe, oder die Botschaft, wer ich nach eigenem Empfinden bin?

Bettcher fordert, dass die Gender-Präsentation nicht länger genutzt werden soll, um einen bestimmten genitalen Status zu kommunizieren. Der einzige Grund, jemand als Frau zu sehen, sollte sein, dass diese Person sich selbst als Frau sieht.

Wenn man diesen Zugang ernst nimmt, dann hat das Folgen. Dann ist die Geschlechtszuweisung entgegen dem deutlichen Selbstbekenntnis, keine Beliebigkeit mehr, dann ist es unmoralisch! Bettcher geht sogar noch weiter:

Wer das auf Basis der FPA geäußerte Bekenntnis “Ich bin eine Frau!” missachtet, der begeht so etwas wie eine Vergewaltigung.
Wer sagt “In Wirklichkeit bist du ein Mann!” beansprucht missbräuchlich die Genitalien der anderen Person und missachtet deren Recht auf Selbstdefinition.

Zusammenfassung

Auch wenn es der „gesunde“ Menschenverstand vielleicht nicht wahrhaben will, sind sowohl die Ethik als auch die Menschenrechte und das deutsche Verfassungsrecht (siehe Recht transident) auf meiner Seite. Ich bestimme, wer ich bin. Und wer mit das abspricht, der verletzt meine Persönlichkeitsrechte.

Wenn also jemand meint, ich sei eigentlich männlich, dann liegt er falsch, weil es genau anders herum ist: scheinbar bin ich ein Mann, aber eigentlich eine Frau. Und ich bin so ehrlich, das auch zu zeigen.

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Wer weiß besser, wer ich bin, als ich selbst?

© Jula 2014

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