von: Shirley Ann Sometimes – © 2000
Er weiß, was die meisten Männer nicht wissen. Er hat getan, was die meisten Männer nicht tun würden. Diese Fakten machen deutlich, dass er einer Minderheit angehört – UND DAS macht ihn besonders.
Es macht ihn auch anders, aber das ist Teil dessen, was er weiß. Was weiß er sonst noch?
Also, er kennt das Gefühl auf seiner Schulter, wenn der Träger des BHs langsam anfängt runterzurutschen. Er weiß, wie man dann die Schulter entlang mit einem Finger den Träger fischen muss, um ihn zurückzuholen. Er kennt das Gefühl, wenn die Strumpfhose zu rutschen beginnt und weiß, wie unangenehm das erst wird, wenn sie noch weiter auf seine Knie zurutscht. Er weiß auch, wie nutzlos es ist, zu versuchen sie zurückzuziehen, ohne das es jemand bemerkt. Er hat gelernt, das ihm nichts anderes übrigbleibt, als sie ganz runterzulassen und dann sorgfältig wieder hochzuziehen und das ein Strumpfhalter praktisch wäre, sie auch oben zu halten. Vielleicht weiß er sogar, dass er seine Hände anfeuchten sollte und die Strumpfhose vorsichtig mit den Handflächen hochrollen sollte, was ein paar Zentimeter bringt und das ganze für eine Weile angenehmer macht.
Ja, er weiß solche Sachen und so weiß er auch ein wenig von Dir, der Frau in seinem Leben. Er hat den Druck in den Fußballen gespürt, nachdem man eine Weile mit 10cm-Absätzen auf hartem Boden gestanden hat. Er kennt die Schmerzen in den Waden, die entstehen, wenn man bloß ein wenig versucht hat, in Schuhen zu laufen, die mehr als 12cm hohe Absätze haben. Vielleicht hat er festgestellt, dass es praktisch unmöglich ist in solchen Schuhen überhaupt zu laufen und noch schwerer, dabei noch so natürlich auszusehen, wie du es tust. Aber er mag solche Schuhe trotzdem und möchte sie tragen.
Du andererseits hältst ihn für verrückt. Denn du trägst sie nur, wenn es unbedingt sein muss und wechselst so schnell es nur geht in bequeme Schuhe. Das weiß er auch und trotzdem möchte er solche Schuhe tragen. Sie lassen ihn femininer aussehen und bequeme Schuhe kann jeder tragen, also wo ist da der Spaß? Außerdem weiß er, dass er nicht weiblich genug ist. Daher muss er jede weibliche Anmutung nutzen, die er kriegen kann, und Pumps sind ein solches Element. Schließlich, und das ist das Wichtigste, helfen ihm die Absätze, sich weiblich zu fühlen. Das sorgt dafür, dass er (oder die Frau in ihm) sich wohl fühlt trotz der unbequemen Schuhe.
Er weiß, wie heiß Strümpfe im Sommer sein können. Doch er braucht sie, um seine behaarten Beine zu kaschieren. Er kennt das Gefühl, wenn die Haarsträhnen seiner Perücke ihn in Augen und Mund pieksen, doch er weiß, dass er das Haar nicht hochstecken kann, weil man sonst seine Kotletten sieht und weil es sonst weniger weiblich wirkt. Das Haar nervt ihn auch deshalb besonders, weil er es nur manchmal trägt und sich nicht daran gewöhnen kann. Er weiß, wie heiß es unter einer Perücke werden kann.
Er hat gelernt, wie schwer es ist, am Rücken einen Reißverschluss bis in den Nacken hochzuziehen und hat sich Tricks einfallen lassen, die es ihm erleichtern. Er ist mehr als nur ein bisschen Stolz darauf, dass er es kann. Bedenke: je mehr Armmuskulatur man hat, desto schwerer ist es, den Ellbogen zu beugen. Er kennt das Problem, eine Bluse auf dem Rücken knöpfen zu müssen.
Und, wo wir gerade dabei sind, er weiß auch um die Schwierigkeit, den BH zu schließen und dabei den ersten Haken in die zweite Öse zu kriegen und dann von vorne anfangen zu müssen. Oder er verschließt den BH vorne und dreht ihn dann nach hinten. In dem Fall hat er gelernt, seine Arme klein einzufalten, um den BH da hinzukriegen, wo er hingehört. Er weiß, wo es juckt, wenn man den BH ausgezogen hat und wie man sich mit den Daumen kratzt. Und er lächelt in sich hinein, wenn er sich kratzt, denn er sieht vor seinem geistigen Auge, wie du es viele Male getan hast. Und plötzlich fühlt er sich dir ein wenig näher oder auch ein wenig mehr wie du.
Er weiß wie schwer es ist, den Schulterriemen einer Handtasche am runterfallen zu hindern und er weiß eventuell auch einiges über MakeUp. Vielleicht, wie es ist, wenn man sich mit dem Augenbrauenstift oder der Mascara-Bürste ins Auge sticht oder wie es ist, wenn man sich Creme oder MakeUp ins Auge schmiert. Er weiß vielleicht, wie man es schafft wie ein Clown auszusehen während es doch weiblich wirken sollte. Und er könnte auch wissen, wie es ist, wenn man versucht, so schnell wie nur möglich jede Spur von MakeUp verschwinden zu lassen … wie rauh sich der Waschlappen anfühlt, wenn man ein paar Mal über die Lippen gerubbelt hat … und die Augen. Er weiß, das er sich nicht erlauben kann, auch nur einen Hauch Farbe auf seinem Gesicht zu lassen.
Was ist mit den kleinen roten Flecken auf seinen Ohrläppchen? Er rubbelt sie und hofft, dass die Anregung des Blutkreislaufs dazu führt, dass ihre Farbe wieder normal wird und er nimmt vielleicht ein wenig heißes Wasser, um die Blutgefäße zu weiten. Doch vielleicht kennt er auch das Gefühl, ein oder zwei Tage lang einen kleinen roten Fleck auf dem Ohrläppchen zu haben. Er wird hoffen, dass es niemand bemerkt oder das zumindest niemand darauf kommt, woher der Fleck stammt. Er ist froh, dass es nur ein Ohr ist. Beim nächsten Mal wird er daran denken, den Ohrring sorgfältig zu drehen.
Er weiß, dass er nicht so gebaut ist wie du. Ja, er kennt die Damengrößen, doch er hat auch gelernt, dass die Taille falsch ist, wenn die Hüfte stimmt und dann ist da noch der Brustkorb oder die Büste, je nach Betrachtungsweise. Nein, er passt nicht rein, wo du reinpasst und das führt zu einem weiteren Problem. Reinquetschen! Er weiß, dass man dazu eine Korsage benötigt. Wann hast du zuletzt sowas getragen? Er weiß, dass es ihm helfen wird, in die Sachen zu passen, doch es ist eine weitere Lage Stoff. Und dann findet er heraus, dass alles, das irgendwo hineingequetscht wird, an anderer Stelle wieder herausquillt. Hoppla. Das ist damit wohl erledigt und es ist Zeit es loszuwerden.
Er weiß, wieso Frauen länger brauchen. Wenn er irgendwo aus ist, weiß er wahrscheinlich, dass er nicht überall willkommen ist. Doch wahrscheinlich war er nicht draußen, weil er weiß, dass er nicht leicht als Frau durchgeht. Er weiß, dass er seine Sicherheit riskiert, wenn er von den falschen Typen erkannt wird und das Demütigung und Peinlichkeiten die Folge sind. Er weiß all dies und trotzdem will er von Zeit zu Zeit doch seine Nase zur Tür herausstrecken, wenn er sich „schick gemacht“ hat. Er weiß, dass er es braucht.
Er weiß, wie es ist, wenn man versucht, den Verschluss des Armbandes oder der Halskette zu schließen. Wer hat sowas erfunden? Der sollte die Ewigkeit damit verbringen müssen, einen kleinen Ring mit einer Hand in einen kleinen Karabinerhaken zu bringen, dessen Zunge man mit dem Daumen runterdrückt. Und das ganze natürlich im Nacken, wo man nichts sehen kann und überall das Haar dazwischenhängt. Er weiß, wie Ohrläppchen sich anfühlen, wenn man ein paar Stunden Clips getragen hat. Vielleicht hat er gelernt, sie ein wenig aufzubiegen, damit der Druck nicht so stark ist. Er weiß, dass die Lösung dieses Problems Löcher in beiden Ohren wären. Doch er weiß auch, dass dies eventuell ein zu deutliches Anzeichen für all die anderen Dinge wäre, die er weiß. Er sollte wissen, dass es wichtig ist, wie ein Macho zu wirken, und Ohrlöcher würden nicht zu diesem Image passen.
Er kennt Angst. „Angst?“ fragst du vielleicht ungläubig und denkst daran, wie mutig er ist. Doch das ist dein Mann. „Sie“ kennt auch Angst. Wahrscheinlich kennt er die gleiche Art Angst wie du – die Angst angegriffen und beraubt zu werden während man bloß spazieren geht. Es ist doch so: der Mann ist ein Jäger und die Frau ist das Wild. Wenn etwas aussieht wie eine Frau, dann ist es auch eine. Schlecht, wenn sich dann herausstellt, dass es doch keine Frau ist und diese Leute verstehen keinen Spaß. Gut, wir wissen alle, dass es viel sicherer ist, zu zweit unterwegs zu sein. Doch sehr wahrscheinlich hat er (sie) niemanden der mitgeht. Wenn er (sie) überhaupt unterwegs ist, dann allein und „sie“ wird sich fürchten, auf eine Art, die er als Mann nicht kennt.
Es gibt aber noch andere Ängste. Die größte hängt wohl mit dir zusammen und wie du das alles aufnimmst, wenn du herausfindest, was er alles weiß. Was du wohl denkst und was du wohl tust? Und diese Angst ist die Schlimmste. Dann ist da noch die Angst, dass andere es herausfinden und was die denken und tun. Doch wenn er als „Frau“ draußen unterwegs ist, hat er die gleichen Ängste wie du jeden Tag. Er versteht diese Ängste mehr als jeder andere Mann, denn erkennt sie aus erster Hand. Vielleicht hat er sogar die gleichen Abwehrtechniken wie du entwickelt. Wenn er schlau ist, hat er welche und kann sie dir erzählen und ihr könnt euch austauschen.
Ja, von all dem könnte er sprechen und von einer Menge mehr, doch er wird wohl nicht. Weißt du, was er nicht weiß, ist, wie es sich anfühlt als Frau von einer anderen Frau angesprochen zu werden. Er weiß nicht, wie es ist, als Frau behandelt zu werden. Klar, er handelt und bewegt sich so, aber es ist ihm nicht vertraut. Er weiß es ist anders und sicher nicht akzeptabel für ihn, einen Mann, so zu sein. Deshalb wird er nicht darüber reden – nicht ohne lange Gespräche und Verständnis.
Er möchte so verzweifelt gerne darüber reden. Ihm ist klar, dass er darüber reden muss. Er kann sich nicht tolleres vorstellen, als bloß mit dir irgendwo rumzusitzen und mit dir von Frau zu Frau zu quatschen. Ihm ist aber auch bewusst, dass du das nicht anregen wirst und er selbst kann es auch nicht ansprechen. Tatsächlich glaubt er, du wirst all diese verbotenen Dinge, die er weiß, zurückweisen. Er wird es in sich verschlossen halten, obwohl er weiß, dass es ein wichtiger Teil dessen ist, wer und was er ist.
Manches was er weiß ist lustig, anderes sehr traurig und wieder andres ist furchterregend. Und dann sind da noch andere Dinge, die er weiß.
Da ist der Genuss, einen kurzen Blick auf das eigene Spiegelbild zu erhaschen und plötzlich streicht ein Lächeln über sein maskulines Gesicht. Er kennt die Freude, einfach die Maskulinität zu ignorieren und die attraktive Frau im Spiegel reflektiert zu sehen. Ja, jedesmal, wenn es „ihr“ gelingt, sich selbst kurz zu sehen, genießt sie es.
Er kennt die Freude eines schönen Kleides – die Vorfreude auf die Anprobe und den Moment wo er sich darin zum ersten mal im Spiegel sieht. Er genießt das Gefühl eine neue Strumpfhose anzuziehen und schaut auf den BH, der auf dem Bett vor ihm liegt.
Aber kennt auch das Gefühl, wenn sich die Flut der Emotion und des Begehrens in ihm aufbaut und einen Punkt erreicht, wo das Umziehen fast eine Notwendigkeit ist. Doch er kennt vielleicht auch das Gefühl, alle Kleidungsstücke in den Altkleidercontainer zu geben oder den Schmerz gekoppelt mit Hoffnung, wenn er oder Du einfach all die geliebten Sachen wegschmeißt. Die Hoffnung, dass sein Begehren weggehen und niemals wiederkehren wird. Man muss es nur fest genug wollen und es wird schon gehen – richtig? Falsch! Er wird das drängende Begehren erkennen, wenn es sich wieder in seinen Kopf einschleicht bis er schließlich an nichts anderes mehr denken kann. Er kennt die Scham des Versagens, wenn er es nicht schafft so zu sein, wie er dir zuliebe gerne wäre.
Mit mehr Glück als die meisten von uns jemals haben, erlebt er vielleicht die Ekstase sich schön zu fühlen durch das Bild, das deine Augen reflektieren, wenn du „sie“ anschaust.
Wenn er das je erlebt hat, weiß er, dass es alles wert ist. Und er weiß, dass er dich dafür liebt, mit ihm dort gewesen zu sein. Und wenn du mit ihm dort warst, dann weißt du, wie wundervoll du dich gefühlt hast, als du die Freude in seinen Augen gesehen hast und wusstest, dass du sie ihm gemacht hast.
Siehst du, er weiß wirklich eine Menge. Bisher wusste nur er es und nun weißt du es auch.
© Übersetzung Jula 2001
Querverweise
- Da sind noch viel mehr Kompetenzen: Two Spirit
- und BA-Broschüre