Niedlich, verletzbar und nutzlos
Auch wenn es nur bedingt mein eigener Zugang ist, möchte ich hier eine interessante Antwort von Grayson Perry diskutieren, die dieser auf die Frage gegeben hat, warum er Transvestit ist. I just love dressing up in everything a man is supposed not to be, in all that vulnerability, sweetness, preciousness and impracticality.“
Dieser Satz von Grayson Perry hat mich sehr beeindruckt, weil er ein Konzept des Crossdressing charakterisiert, das über platten Fetischismus hinausgeht. Das finde ich deshalb interessant, weil das Darstellen einer stilisierten, klischeehaften Weiblichkeit durch uns CD/TV häufig in einen rein sexuellen Kontext gestellt wird und auch Nebenaspekte wie die starke Fokussierung auf die Frau als Objekt männlicher (Sexual-)Begierde damit verbunden sind. Das mag teils sogar so sein, doch Perrys Satz zeigt auf, dass es auch andere, nicht primär sexuell und fetischistisch geprägte Gründe für Männer gibt, Weiblichkeit auch in stark klischeehafter Form für sich zu entdecken.
Grayson Perry benennt vier Begriffe:
- Verletzlichkeit
- Süße oder vielleicht eher Niedlichkeit
- Kostbarkeit oder auch Allüren
- Unbrauchbarkeit, Nutzlosigkeit, Zweckfreiheit
Gemeinsam ist diesen Begriffen wie Perry schon selbst sagt, dass sie ein Gegenmodell zu dem beschreiben, wie ein Mann nun mal zu sein hat oder besser noch beschreiben, wie ein Mann nicht sein sollte. Das Gegenmodell zum Mann, dem diese Begriffe nicht nur zugestanden werden sondern es sogar positiv kennzeichnen ist das kleine Mädchen, das Perry in seiner Darstellung von Claire auch zu verkörpern scheint.
Es mag paradox erscheinen, doch als Gegenmodell zum erwachsenen Mann taugt viel besser noch als die erwachsene Frau, deren Lebenswelt sich in den letzten Jahrzehnten stärker der des Mannes angenähert hat, das kleine Mädchen. Hier ist die Distanz zu den als bedrückend vielleicht sogar überfordernd erlebten Zwängen des Alltags maximal. Frauen können sich einen Teil dieser Zugeständnisse in ihre Erwachsenenwelt herüberretten und auf das eine oder andere berufen, um Unannehmlichkeiten bei Bedarf abzumildern. Männern wird wie Perry richtig feststellt, nichts davon zugestanden, obwohl sie es vielleicht auch mal gerne hätten.
Schauen wir sie uns ein wenig genauer an
Verletzlichkeit
Kleine Mädchen sind zart und verletzlich, sie müssen vor den Gefahren der Welt, denen sie ansonsten ausgeliefert wären beschützt werden. Männer beschützen. Männer sind stark und dazu da, Probleme und Schwierigkeiten zu überwinden. Aber die Rolle, die wir spielen ändert doch nichts daran, dass sich viele von uns (Männern) selbst sehr viel verletzlicher fühlen, als wir das nach außen zeigen und zeigen dürfen, um unserer Rolle gerecht zu werden. Die weibliche Rolle bietet die Möglichkeit, sich auch nach außen so darzustellen, wie man sich fühlt: klein, schwach und verletzlich.
Niedlichkeit
Gerade die Unschuld und Ferne von den Schmuddelthemen ist ein Gegenentwurf zur männlichen, aber auch weiblichen Sexualität. Hier geht es m.E. ganz dezidiert nicht um irgend etwas Sexuelles oder gar Pädophiles. Sondern Ziel ist es im Gegenteil, aus dem sexuellen Kontext herauszukommen und weder für Männer Sexualobjekt noch für Frauen Konkurrenz zu sein. Einfach angenehm und nett sein und sich dem ewigen Spiel des Begehrens und begehrt Werdens der Erwachsenenwelt entziehen. Gerade in der Asexualität des kleinen Mädchens steckt die entschiedene Gegenposition zum erwachsenen Mann. Eine Position die noch extremer ist als die einer erwachsenen Frau, die in unserer Gesellschaft zur gleichberechtigten Partnerin geworden ist. Männer sind für sie sexuell attraktiv und andere Frauen auch Konkurrentinnen. Eine erwachsene Frau würde es sich wohl auch verbitten, wenn man sie in erster Linie „niedlich“ finden würde. Doch selbst wenn es sich männlicher Chauvinismus (wenn auch meist heimlich) gestattet, eine erwachsene Frau niedlich zu finden, bezüglich eines Mannes habe ich dieses Wort außer in spöttischem Zusammenhang noch nie gehört. Männer sind definitiv nicht niedlich.
(Moni: „Quatsch! Einige Männer sind schon süß! Z.B. ‚Der-mit-den-süßen-Ohren‘ ist niedlich.“
Jula: „Okay, so nennen wir ihn aber nur heimlich!“)
Allüren
Kleine Mädchen müssen nicht vernünftig sein. Wenn sie sich irrational verhalten, dann ist das nicht nur zugestanden, sondern die Umwelt freut sich sogar noch über diese Realitätsferne. In der Welt der kleinen Mädchen gibt es noch Prinzessinnen und Einhörner und alle Geschichten haben ein Happyend. Männer dagegen stellen sich der Realität und beschränken ihre Träume auf das Machbare. Sie sind desillusioniert und wissen, dass da keine Wunder auf sie warten, sondern lediglich ein grauer und zermürbender Alltag.
Zweckfreiheit
Ein kleines Mädchen hat keine ernsten Pflichten, es ist nicht für andere und in letzter Konsequenz nicht mal für sich selbst verantwortlich. Niemand erwartet oder gar verlangt konkrete Ergebnisse von einem kleinen Mädchen. Die Tage können gelebt und genossen werden, als ob es weder Vergangenheit noch Zukunft gäbe. Für einen erwachsenen Mann gibt es, sollte er sich so verhalten nur ein Wort: verantwortungslos! Männer stecken in einem massiven Dickicht verschiedener Pflichten fest. Praktisch alles, was sie tun, dient bestimmten Zwecken und ist für andere oder auch nur für sie selbst nützlich. Selbst die Hobbies sind häufig noch konstruktiv. Das einfache „Sein“ ohne Nutzen gestehen sich Männer nur selten zu und selbst wenn sie bloß die Sportschau gucken, sind sie hinterher doch informierter und können bei den Kollegen mitreden. Genießen einfach so, ohne wie auch immer gearteten Nutzen gestehen sich Männer in ihrer Rolle nicht zu.
Der weitaus überwiegenden Zahl der Männer wäre es sicher ein Graus mit diesen vier Begriffen gekennzeichnet zu werden und auch die meisten erwachsenen Frauen wären entsetzt, wenn sie auf eine dermaßen gekennzeichnete Rolle festgelegt würden. Aber Frauen können zumindest zeitlich begrenzt und in gewissem Umfang diese Positionen einnehmen und das dann auch genießen. Welche Frau kriegt nicht gerne mal ein Kompliment dafür, dass sie einfach „süß aussieht“ oder hätte etwas dagegen, dass man ihr eine schwere Arbeit abnimmt oder auch bloß eine Tür aufmacht?
Und dann gibt es noch ein paar Männer, die es auch gerne mal ab und an genießen würden, wenn sie nicht die Macher wären, sondern wenn man sie akzeptiert oder gar mögen würde, bloß weil sie so nett aussehen. Die es ebenso wie eine selbstbewusste Frau gern hätten, mal schwach sein zu dürfen und dafür sogar noch sympathisch gefunden zu werden.
Crossdressing ist insoweit eine Chance durch einen Rollenwechsel Bedürfnisse zu leben, die in der einen Rolle verwerflich sind, aber in der anderen zumindest akzeptabel, wenn nicht sogar positiv.
Auch wenn es sonderbar erscheint: nicht nur in den Frauen, sondern auch in manchen Männern steckt ein kleines Mädchen. Ist das schlimm?
Zur Person:
Grayson Perry hat Kunst studiert und lebt als bildender Künstler mit seiner Frau und seiner Tochter in der Nähe von London. Für seine Vasen, die sich u.a. mit der Thematik des Kindesmissbrauchs auseinandersetzen, hat er den Turner-Preis 2003 der Tate Gallery gewonnen.
© Jula 2003