Si quis tota die currens pervenit ad vesperam, satis est.“ (Wenn einer, der den ganzen Tag gelaufen, am Abend ankommt, so ist’s genug.)
Francesco Petrarca, „De vera sapientia, dialogo I,B“
Helena schlurfte wie jeden Tag zum Einkaufszentrum. Was für ein Glück, dass sie die Entfernung immer noch gut zu Fuß bewältigen konnte. Bis auf die Sonn- und Feiertage, wenn die Ladenpassage geschlossen war, ging Helena fast jeden Tag dort hin. Nur Krankheit, die sie ans Bett fesselte, konnte sie daran hindern. Doch meist ging es ihr gut, so wie heute und sie zockelte nach dem Frühstück im Heim und ein wenig Fernsehkonsum los. Obwohl das Einkaufszentrum nur 500m entfernt war, brauchte sie für den Weg fast eine halbe Stunde. 500 Meter! Früher hätte sie über diese Zahl gelacht, aber das Alter forderte seinen Tribut. Immerhin konnte sie noch gehen und war nicht auf einen Rollstuhl angewiesen. Außerdem hatte sie nichts weiter zu tun. Sie hatte Zeit. Es dauerte halt so lange wie es dauerte.
Dem täglichen Ritual folgend setzte sich Helena zuerst in das Cafe der Bäckereifiliale. Über einen duftenden Cappucino hinweg betrachtete sie das erwachende Treiben in der Passage. Sie strich sich den Rock glatt und schlug die Beine übereinander. Für heute hatte sie das mausgraue Kostüm mit dem wadenlangen Rock gewählt und ein paar Sneakers. Dazu die rosa Bluse und die schöne goldene Kette mit den schweren Ohrringen. Sie liebte diese Ohrringe, denn sie waren so schwer, dass man bei jeder Kopfbewegung ihr Pendeln spürte. So wurde sie ständig daran erinnert, dass sie Ohrringe trug. Wenigstens etwas, wenn sie schon lange Röcke und „praktische“ Schuhe anhatte.
Helena seufzte. Ihre Zeiten für Minirock und Highheels waren vorbei. Genau genommen hatte es diese Zeiten nie gegeben. Erst jetzt, am „Abend des Lebens“ wie dieser Lebensabschnitt euphemistisch genannt wurde, hatte sie zu sich selbst gefunden.
Lange hatte es gedauert, bis Helena anfangen konnte zu leben. Sie hatte gewartet. Sie hatte Rücksicht genommen auf die Familie, die Bekannten, die Kollegen, die Kunden, die Karriere. Und nach dem Ende des Berufslebens hatte sie Rücksicht genommen auf Brigitte. Doch seit Brigitte an Krebs gestorben war, gab es niemanden mehr, auf den sie Rücksicht nehmen musste.
Bereits vor ein paar Jahren war sie zusammen mit Brigitte in das Appartment im „Betreuten Wohnen“ der „Seniorenresidenz“ gezogen. Helena war eigentlich gesund, doch ihr Rückenleiden ließ es nicht zu, sich selbst zu versorgen und als Brigitte dann krank geworden war, hatten sie ihr Häuschen, das sowieso zu groß für sie geworden war, aufgegeben und sich in den großen Seniorenwohnkomplex eingekauft. Und da lebte sie nun. Dort lebte Helena. Helena, die vorher nur als Traum gelebt hatte.
Brigitte hatte sich nie mit Helenas Existenz abfinden können. So hatte Helena gewartet und war aus Liebe zu Brigitte während der Krankheit noch ein wenig länger im verborgenen geblieben.
Bei der Beerdigung hatte Helena geweint, denn sie war jetzt allein. Würde den Rest ihres Weges ohne den Menschen gehen müssen, der sie immer begleitet hatte. Aber sie hatte auch gewusst, dass sie diesen Weg als Helena gehen würde.
Die nächsten Tage hatte sie im Heim einige Irritationen zu überstehen gehabt. Vom Austausch des Namensschildes an der Tür ihres Appartments bis zu Gesprächen mit der Geschäftsführerin und der Pflegedienstleitung. Jetzt war sie endlich Helena!
Gut, es hatte anfangs einiges an Getuschel in der Cafeteria des Wohnkomplexes gegeben, wo sie ihr Frühstück und ihr Abendessen einnahm. Doch das hatte sich schnell gelegt. In der ereignisarmen Welt eines Altenheimes war das, was sie getan hatte, eine kleine Sensation. Doch auch Sensationen wurden uninteressant, wenn sie Alltag wurden.
Das Personal hatte professionell reagiert. Jedenfalls die meisten. Diejenigen, die aus Gedankenlosigkeit weiter „Herr“ zu ihr gesagt hatten, waren nach Beschwerden schnell höflich geworden.
Unter den anderen Bewohnern und Bewohnerinnen hatte Helena neue Bekanntschaften geschlossen. In der Zeit mit Brigitte waren sie nicht auf solche Kontakte angewiesen gewesen, hatten sie auch nicht gesucht. Doch nun war Helena eine von den vielen Witwen, die es hier gab und als sie von der einen oder anderen Dame angesprochen wurde, die ihre Neugier stillen wollte, hatte sie freundlich reagiert. So war sie nun zwar allein, aber nicht einsam. Mit ein paar anderen Frauen traf sie sich regelmäßig oder auch zufällig zum Schwätzen, Spazierengehen oder auch zum gemeinsamen Fernsehen. Sie war erstaunt gewesen, wie selbstverständlich sie als Helena akzeptiert worden war. Anfangs hatte sie natürlich viel von sich erzählen müssen. „Warum tut jemand so etwas?“ war einfach eine zu brennende Frage, um sie unbeachtet zu lassen. Sich nicht zu erklären hätte immer zwischen ihr und den anderen gestanden. Und so hatte Helena sich erklärt, so gut sie es halt konnte. Sie wusste ja selber nicht „warum“. Hatte sich ihre Sehnsucht, Helena sein zu wollen, nie erklären können. Doch sie konnte erklären, was sie wollte und es war nicht schwer zu erklären, warum es „jetzt oder nie“ sein musste. Ihre Selbstoffenbarung war die Eintrittskarte gewesen und nun war sie eine von den „alten Damen“.
Ihre neuen Bekannten hatten, nachdem sie die Phase des Erstaunens überwunden hatten, Helena schnell als eine der ihren akzeptiert. Und sie hatten ihr geholfen. Mit ihnen konnte sie über ihre Trauer über Brigitte reden, darüber wie sie ihr fehlte. Und sie waren eine riesige Hilfe dabei die beste Helena zu werden, die sie sein konnte. Sie halfen ihr dabei, ihre Garderobe umzustellen. Eine regelrechte Farb- und Stilberatung hatte sie bekommen. Richtige Modenschauen hatte es gegeben. Sie hatte den Frauen letztendlich weniger eine Sensation gegeben als viel mehr eine interessante Aufgabe. Und schließlich und vor allem eine neue Freundin. „Die Zeit arbeitet für dich und gegen uns“ hatte Marga gesagt. „Während du wegen deines sinkenden Testosteronspiegels sowieso immer weiblicher wirst, verlieren wir wegen unseres sinkenden Östrogenspiegels an Weiblichkeit. Je älter wir werden, desto ähnlicher werden wir uns.“
„Trotzdem ist es schade um den Mann!“ Das war vielleicht der einzige Wermutstropfen gewesen. Etwas, das ihr im Scherz manchmal noch von der einen oder anderen vorgeworfen wurde. Helena hatte einen der wenigen Männer in der Wohnanlage auf dem Gewissen! Es gab einen gewaltigen Witwenüberschuss bzw. aus weiblicher Sicht einen unangenehmen Mangel an Männern. Auf fünf Frauen kam höchstens ein einziger Mann und der wohnte im Zweifelsfall mit seiner Frau zusammen. Alleinstehende Männer gab es so gut wie keine. „Und dann wird endlich mal ein attraktives Exemplar frei und du bringst ihn um!“ hatte Dora die Witwensicht etwas überzogen und mit herzlichem Lachen dargestellt. „Aber dafür haben wir dich kennengelernt und du bist ne Nette!“
Helena dachte gerne an diese Szene zurück, denn sie hatte ihr gezeigt, dass ihr Traum nach so vielen Jahrzehnten in Erfüllung gegangen war. Sie war eine Frau. Und sie genoss es, mit den „Mädels“ in der Cafeteria zu sitzen und bei Sahnetorte die letzten Neuigkeiten aus dem Heim durchzusprechen. Ihr Herz wurde warm, wenn sie mitbekam, dass andere von ihr ganz selbstverstandlich als Frau sprachen. „Lenchen hat mir erzählt, der neue Zivildienstleistende will ab Sommer in Spanien studieren.“ Lenchen – sie hatte einen Kosenamen. Sie war nie die „schöne Helena“ ihrer Fantasie gewesen, doch nun war sie immerhin Lenchen, die man fragte, wenn man ein Zitat für eine Glückwunsch- oder Kondolenzkarte brauchte. Immerhin. Besser „Lenchen“ als einer von den grauen Männern in ihren immer gleichen Cordhosen und Wolljacken.
Sie war Helena und würde es bleiben. Für immer. Gestern hatte sie eine „Verfügung für den Todesfall“ bei der Geschäftsführung des Heimes hinterlegt. Es ging ihr um ihren Grabstein. Sie wollte neben Brigitte liegen. Doch sie wollte nicht, dass auf dem Grabstein der falsche Name stand. Deshalb hatte sie vorgesorgt und eine notarielle Erklärung (sicher ist sicher!) erstellt, die garantierte, dass neben Brigitte irgendwann Helena ruhen würde und nicht irgendein Mann, den es schon lange nicht mehr gab. Die kleine Störung der Pietät, dass Brigitte wohl nicht damit gerechnet hatte, quasi posthum zur Lesbe zu werden, würde sie schon hinnehmen müssen. Dafür hatte sie ihr ganzes Leben einen Mann gehabt. Und schließlich konnten in dem Grabmal auch Schwestern liegen. Was ja auch irgendwie stimmte.
Helena bestellte sich noch einen Cappucino. Schade, dass Marga heute nicht mitkommen konnte. Marga teilte Helenas Liebe für das Einkaufszentrum und das „Leute gucken“. Es war schön, mit ihr zusammen auf einer Bank zu sitzen, das geschäftige Hin und Her der Passanten zu beobachten und über besonders auffällige Exemplare zu reden. Das machte ihnen Spaß und war viel besser als Fernsehen! „Eine Kleinigkeit muss ich für Marga mitbringen. Die Arme liegt mit Hexenschuss in ihrem Zimmer und kann sich nicht rühren.“ dachte Helena. „Gleich nach dem ich den Kaffee ausgetrunken habe.“
Eine halbe Stunde später beachtete niemand die große alte Frau, die auf ihren Stock gestützt langsam durch das Einkaufzentrum ging und die Auslagen der Geschäfte studierte, um schließlich einen kleinen Topf mit blühenden Osterglocken und einem Stoffhasen darin zu kaufen. „Damit Marga ein wenig Frühling im Zimmer hat, wenn sie bei dem schönen Wetter schon nicht raus kann!“ dachte Helena.
© Jula 2007