Ich bin nicht normal!
Das muss so deutlich gesagt werden. Dass ich nicht normal bin, weiß ich eigentlich schon so lange, wie ich über mich nachdenke. Ich konnte mir nie vormachen, genau so zu sein, wie alle anderen.
Immerhin konnte ich ziemlich lange allen anderen dieses Wissen über mich vorenthalten. Ich habe so getan, als wäre ich ein normaler Junge, ein normaler Mann, weil ich Angst vor dem hatte, was passieren kann, wenn die anderen merken, dass ich gar nicht normal bin.
Doch jetzt ist es raus: ich lasse mehr oder weniger deutlich andere Menschen bemerken, dass ich nicht normal bin. Wie es kommt, dass ich nicht normal bin, und welche Folgen das hat, darüber möchte ich hier ein wenig nachdenken.
Die Balance
Jeder Mensch ist einmalig und doch sind wir alle gleich. Das klingt spontan wie ein Widerspruch. doch es beschreibt unsere Situation recht gut. Es ist anerkannt, dass jeder Mensch ein einmaliges Individuum ist. Doch dieses Individuum soll sich innerhalb gesteckter Grenzen entfalten und diese nicht verletzen. Wir sind also ebenso einzigartig, wie wir Teil von Gruppen sind.
Wir versuchen, uns von anderen Menschen zu unterscheiden. sowohl individuell als auch als Mitglieder von Gruppen, die sich wiederum von anderen Gruppen abgrenzen. Letztlich sind wir auch in unserer Individualität Gruppenmitglieder! Wir alle müssen die Balance zwischen der Individualität einerseits und der Zugehörigkeit zu Gruppen andererseits leisten. In diesem Zusammenspiel geht die Gruppenzugehörigkeit vor.
Das bedeutet, dass wir unsere Individualität innerhalb der Erwartungen verwirklichen, die für die Gruppen, denen wir zugeordnet werden, gelten. Da kann man sich in der Mitte des Feldes bewegen oder auch am Rand, doch es gibt Grenzen, die man nicht verletzen darf. Flexibilität gibt es nur innerhalb des Rahmens, der durch die anerkannten Kategorien festgelegt wird. Varianz gibt es in akzeptierter Form nur innerhalb der gesellschaftlich anerkannten Kategorien. Individualität darf nicht die Gruppenzugehörigkeit insgesamt in Frage stellen.
Die Gesellschaft erwartet, dass sich die Individuen zumindest an einige Grundkonsense halten. Dazu gehört neben anderen Verhaltenserwartungen auch, dass sie ihre soziale Geschlechtsrolle in Übereinstimmung mit ihrem körperlichen Geschlecht wählen. Die meisten Menschen leisten das automatisch, ohne darüber nachdenken zu müssen. Ich glaube, sie könnten nicht einmal benennen, aus welchen Motiven sie sich an die Gruppennormen halten. Die Gruppennormen werden nicht hinterfragt, sondern als selbstverständlich genommen.
Während bei bestimmten gesellschaftlichen Gruppen, wie z.B. Religionszugehörigkeiten oder Zugehörigkeit zu Bewegungen wie Punk oder Gothik oder auch bei Berufen die entsprechende äußere Inszenierung noch ein halbwegs bewusster Akt ist, findet das bei der gesellschaftlich relevantesten Kategorisierung, dem Geschlecht nicht bewusst statt.
Auffällig kann man sein und manchmal muss man es sein
Wer die Erwartungen an die Einhaltung der Gruppennormen nicht leistet, der wird auffällig. Wir alle tragen Modelle und damit Erwartungen mit uns herum, wie eine Frau oder ein Mann aussieht und wie ein Punk oder ein Banker oder eine Krankenschwester aussieht.
Jede Person nehmen wir als Mitglied von einer oder mehreren Gruppen wahr und haben in der Folge eine Vorstellung davon, wie sie auszusehen hat. Noch viel genauer aber wissen wir, wie sie NICHT auszusehen hat. Wie immer wir uns Banker vorstellen, NIE tragen sie Flipflops. Krankenpfleger haben NIE schwarze Berufskleidung.
Wenn diese Erwartungen enttäuscht werden, dann sind wir irritiert. Der Grund dafür ist weniger die Person, als vielmehr unser Vertrauen in die Funktionalität der Regel. Durch die Auffälligkeit werden Zweifel erzeugt, ob die Welt wirklich so ist, wie die praktischen, einfachen Regeln behaupten. Jede deutliche Abweichung von einer Regel ist auch eine Beschädigung der Regel selbst. Denn eine Regel die zu oft durchbrochen oder verletzt wird, hört auf eine Regel zu sein.
Nun gibt es immer wieder Personen, die sich nicht an die Regeln halten. Sie sehen anders aus als die Mehrheit, die sich an die Normen hält. Die Verletzung der Erwartungen kann zwei verschiedene Ursachen haben. Entweder die betreffende Person kann den Erwartungen nicht genügen oder sie will es nicht.
Die Personen, die Erwartungen bewusst und willentlich verletzen sind Rebellen. Sie wollen auffallen und irritieren. Sie sind politisch motiviert oder Künstler oder einfach extrem extrovertiert. Dragqueens gehören in diese Kategorie ebenso wie Punks oder Skinheads. Sie könnten sich schon an die Normen halten, doch sie wollen es nicht. Sie wollen die Normen kritisieren oder vielleicht einfach nur auffallen.
Doch dann ist da noch die andere Gruppe. Die kann es sich nicht aussuchen, ob sie irritiert. Es gibt Menschen, die zwangsläufig irritieren müssen. Das sind die Menschen, die äußerlich zwangsläufig auffällig sind. Eine Person, die kleinwüchsig oder auf einen Rollstuhl angewiesen ist, kann es sich nicht aussuchen, ob sie auffällig ist. Sie ist es eben. Auch wir Transgender sind gezwungen auffällig zu sein. Viele von uns geben einen Haufen Geld aus und riskieren dabei sogar ihre Gesundheit, um unauffällig zu werden. Manche haben damit Erfolg, die meisten nicht.
Was ist so schlimm an der Irritiation?
Wenn nun Personen, aus welchem Grund auch immer, auffällig sind, dann sind wir irritiert. Diese Irritiation wirkt weiter und rührt an einen wichtigen Punkt.
Natürlich wissen wir alle, dass Menschen unterschiedlich sind und dass man ihrer äußeren Erscheinung nicht bedingungslos vertrauen kann. Menschen können anders sein, auch wenn sie sich komplett angepasst kleiden und stylen. Trotzdem versuchen wir, häufig aus Mangel an anderen, besseren Informationen, aus dem äußerlich Sichtbaren auf das Innere zu schließen.
Irritation ist nicht gut, weil sie die zentrale Währung „Vertrauen“ betrifft. Wer irritiert, dem kann man nicht vorbehaltlos vertrauen. Hier greift ein „wenn-dann“-Schluss: wenn man schon den Unauffälligen nicht trauen kann … wie sehr kann man dann Leuten trauen, die noch nicht einmal unauffällig sind? Eher noch weniger!
Das ist zwar logischer Murks, denn tatsächlich wäre die korrekte Schlussfolgerung, dass das Aussehen egal ist und man sich andere, verlässlichere Indizien suchen muss. Doch es ist einfach zu praktisch, aus dem Aussehen erste Hypothesen zu bilden, als dass man darauf verzichten würde. Verwerfen kann man sie ja später immer noch. Doch das tun wir eher selten. Deshalb gibt es meist keine zweite Chance für den ersten Eindruck!
Mein Problem: ich bin auffällig und kann das nicht ändern
Ich will nicht irritieren, sondern möchte unauffällig sein. Ich kann aber nicht unauffällig sein, weil ich mein Inneres nicht ständig verleugnen kann. Dabei ist es egal, ob ich in männlicher Rolle agiere oder in weiblicher. In keiner von beiden kann ich die erforderliche Unauffälligkeit leisten.
Weil ich mich in einem beruflichen Umfeld bewege, in dem die Grenzen für Abweichung relativ eng gesteckt sind, irritiere ich zwangsläufig. Es sagt mir natürlich niemand, dass meine Haare zu lang, mein Parfüm zu feminin oder meine Strümpfe zu dünn sind. Das wäre nämlich vollkommen unangemessen. Gleichwohl merke ich natürlich, dass die Leute stutzen und sich so ihre Gedanken machen. Bestimmt fragen sich viele Menschen, was mit mir nicht stimmt, dass ich mich so seltsam style.
Aus dieser Situation kann ich nicht unbeschadet herauskommen. Wenn ich mich nicht an die Normen halten kann, dann bin ich unfähig. Meine Unfähigkeit, mich an die Erwartungen für die Gruppe zu halten, der ich scheinbar angehöre, wird nicht als Fehler der Norm gesehen, sondern als persönliches Versagen.
Es wäre übrigens nicht besser, wenn ich zwar könnte aber nicht wollte. Denn dann wäre meine Auffälligkeit Rebellion, ein willentlicher Akt der Missachtung gemeinsamer Normen.
Doch letztlich ist es egal, welche Hypothese die Menschen in meinem beruflichen Umfeld zum meiner Auffälligkeit haben. Unfähig oder unwillig, beides ist nicht gut.
Gibt es eine Lösung?
Schwierig! Menschen sind nun einmal Menschen mit all ihren Fähigkeiten, aber auch ihren Begrenzungen. Deshalb brauchen wir auch die vereinfachenden Modelle, mit denen wir die Vielfalt der Welt auf ein vernünftiges Maß reduzieren können. Wir müssen auf Basis dieser Vereinfachungen unsere Erwartungen ausbilden, damit wir reaktionsfähig bleiben. Und wir reagieren zwangsläufig enttäuscht, wenn sich unsere Erwartungen als falsch erweisen. Das sind Rahmenbedingungen, die sich nicht ändern lassen.
Trotzdem lässt sich etwas machen. Schließlich hat es die Menschheit ja auch verkraftet, dass die Erde keine Scheibe, sondern eine Kugel ist und sich um die Sonne dreht und nicht umgekehrt. Wir können lernen und bessere Modelle entwickeln, die mehr von der Vielfalt erklären.
Wenn mehr Menschen akzeptieren würden, dass der Körper eine Person zwar meist, aber eben nicht immer und schon gar nicht zwangsläufig zur Frau oder zum Mann macht, dass es nicht bloß ein Entweder-Oder, sondern auch „weder-noch“ und „sowohl-als auch“ gibt und dass die individuellen Eigenschaften etwas anderes sind, als die soziale Rolle, dann wäre viel erreicht.
Querverbindungen
- Was ist normal?
- Warum haben es Transgender schwer im Job
- Passing
- Genderqueer am Arbeitsplatz
- Genderfluidität
© Jula Böge 2015