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Nicht binär!

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Genderqueer-Flagge

Aktuell ist das Thema der Überschreitung und Verwischung von Gendergrenzen präsent wie wohl nie zuvor. In den Medien sind Transgender und deren Themen fast täglich zu finden. In der Mode gibt es eine Welle von Androgynität. Es gibt genetisch männliche Models, die Frauenmode präsentieren und umgekehrt.

In der Gesellschaft gibt es immer mehr Personen, die sich als nicht binär (Enby = non binary) definieren.

Ebenso präsent ist der Widerstand gegen eine Verwischung der Gendergrenzen. Und die Aggression gegen Personen, die ihn zu verkörpern scheinen.

Offensichtlich geht es hier um etwas Wichtiges!

Einfache, klare Geschlechtsrollen sind gut und wichtig!

Zunächst muss gesagt werden, dass einfache Kategorien für einen so zentralen Aspekt wie das Geschlecht für jede Gesellschaft wichtig sind.

Deshalb ist das Modell sehr viel einfacher als die Realität der Natur. Was die Biologie betrifft, ist die Sache mit den Geschlechtern nämlich ziemlich kompliziert. Und es ist sehr viel weniger eindeutig, als das unser Modell von Geschlecht behauptet. In der Natur gibt es zwar mehrheitliche Normalfälle, doch viel zu viele Ausnahmen davon, um klar getrennte Kategorien behaupten zu können.

Auf der Ebene der Gesellschaft muss es zwangsläufig einfacher sein. Wir sind gezwungen miteinander zu interagieren. Deshalb brauchen wir verlässliche Annahmen, die uns den Umgang mit anderen, meist fremden Menschen erleichtern. Das ist der Job des Gendermodells. Gender hilft, die gesellschaftlich wichtigen Fragen zu beantworten: „Was kann ich von dir erwarten?“ und „Wie soll ich dich behandeln?“.

Ein wichtiges Teilthema dabei ist die Sprache: „Wie soll ich dich ansprechen?“ und „Wie soll ich von dir reden?“ Durch die Struktur unserer Sprache ist das ein ganz praktisches Problem. Wir können im Deutschen nicht von einer Person reden und dabei ihr Gender außen vorlassen. Die Tatsache, dass sich das so entwickelt hat, dass ich von Personen zwangsläufig in „gegenderter“ Form mit eindeutiger Zuordnung sprechen muss, lässt Rückschlüsse darauf zu, wie wichtig für unsere Gesellschaft klare Verhältnisse beim Geschlecht sind. Selbst wenn wir sonst nichts von einer Person wissen, ihr Gender wird immer kommuniziert. Tatsächlich ist es es häufig das einzige, was wir von dieser Person wissen.

Damit die durch Gender vorgenommene Kategorisierung funktioniert, muss vor allem eines mit den Regeln für die Geschlechtsrollen erreicht werden: die beiden Gender müssen sich deutlich unterscheiden. Nur dann, wenn die behauptete Unterschiedlichkeit optisch leicht nachvollziehbar ist, erfüllt Gender seinen Zweck. Es beseitigt Unsicherheit und schafft Vertrauen. Erwartungen können gebildet werden. 

Deshalb ist die Betonung von Unterschieden ein wesentlicher Aspekt von Gender. Die Kulturanthropologin Gayle Rubin spricht sogar von einem „Sameness taboo“. Es ist eine kulturelle Basisanforderung, dass Männer und Frauen sich unterscheiden. Das wirkt sich auf die gesellschaftlichen Regeln für die äußere Erscheinung, insbesondere die Kleidung und das Verhalten aus. Schon in der Bibel finden wir ein Verbot der gleichen Kleidung für Frauen und Männer.

Ist Nichtbinarität böse?

Wenn man es so betrachtet, ist Androgynität ein Angriff auf die soziale Funktionalität des Gendermodells. Was es leisten soll, nämlich die einfache, schnelle und eindeutige Zuordnung von Personen zu einem Gender und die daraus folgende Vereinfachung, wird durch Androgynität unterlaufen.

Androgyn auftretende Personen machen es uns schwer, tragfähige Hypothesen über sie zu bilden. Und sie machen es uns schwer, über sie zu sprechen. Die deutsche Grammatik zwingt uns zu einer Entscheidung, die uns von der Person schwer gemacht wird. Nicht binäre Personen (Enbys) verweigern sicht eils sogar offensiv der Kennzeichnung mit „er“ oder „sie“.

Deshalb löst Androgynität insbesondere bei solchen Menschen Aggressionen aus, die darauf angewiesen sind, dass das Modell möglichst simpel ist. Wen Komplexität ganz allgemein schnell überfordert, der ist natürlich besonders betroffen, wenn es für ihn scheinbar unnötigerweise komplizierter wird.

Nichtbinarität ist natürlich

Es gibt sie nun mal, die Ausnahmen und Zweifelsfälle. 

Nichtbinarität gab es vermutlich schon immer und überall. Sie ist tief in der Geschichte verwurzelt und hat beispielsweise in der Kunst viele Spuren hinterlassen. Es gibt übrigens auch eine Menge Menschen, die sexuell auf Androgynität stehen. Neben der individuellen Notwendigkeit von Androgynität gibt es also auch eine Freude an ihr. Sie ist nicht nur Last, sondern auch Inspiration, Freude und Lust.

So steht dem gesellschaftlichen Bedürfnis nach Eindeutigkeit ein ebenso natürliches, individuelles Bedürfnis nach Uneindeutigkeit gegenüber. Es ist die zwangsläufige Folge jeder noch so strikten Regel, dass sie Ausnahmen produziert.

Nichtbinarität als Schicksal

Es gibt Menschen, die sind gezwungen androgyn zu wirken. Für sie ist es eine individuelle Tatsache, die sie nicht vermeiden können, nicht binär zu sein.

Es gibt in relevanter Zahl Menschen, deren individuelle Eigenschaften einer eindeutigen Zuordnung zu einem von zwei Gendern entgegenstehen.

Das sind zunächst die „klassischen“ Intersexuellen. Nach aktuellen Zahlen liegt die Inzidenz bei ca. 1,5%. Das klingt sehr wenig, bedeutet aber, dass es in Deutschland mehr als 1 Million Menschen sind. Diese Personen sind objektiv, also biologisch divers. Gleichwohl ordnen sich die meisten in das für sie unpassende Modell ein und definierten sich als Männer oder Frauen.

Hinzu kommen noch Personen wie ich, deren Körper eindeutig ist, deren Empfinden und Selbstbild jedoch nicht zu dem Körper passt. Wenn ich meiner Identität Ausdruck verleihe, möchte ich gerne so weiblich sein, wie ich mich selbst sehe. Doch durch meinen Körper, dessen männlichen Anschein ich nicht komplett unterdrücken kann, bleibt immer eine gewisse Androgynität.

Ebenso wie ich, wollen viele, vermutlich sogar die meisten Transgender nicht unbedingt androgyn sein. Wir streben nach Eindeutigkeit im traditionalen Modell von zwei Gendern. Allerdings ist es nicht das Gender, das unser Körper nahelegt, sondern das andere.

Viele Transgender akzeptieren die alten Anforderungen (siehe das immer noch gültige TSG), dass sie ihren Körper (= ihre Genitalien) anpassen müssen, wenn sie das Gender beanspruchen wollen, das zu ihrer Identität passt. Doch selbst diese Personen müssen nicht selten für sich einsehen, dass sie trotz aller medizinischen Maßnahmen und nun „richtiger“ Genitalien immer noch falsch gesehen werden. Zumindest gibt ihr Äußeres häufig trotz größter Anstrengungen zu Zweifeln Anlass. Sie sind Rebellen wider Willen.

Nichtbinarität als Wahl

Eine bemerkenswerte Anzahl von Menschen wollen sich nicht eindeutig zuordnen lassen. Sie empfinden das Korsett ihres Gender als zu eng. Einige von ihnen, aber bei weitem nicht alle verstehen sich als Transgender. Nicht binär lebende Menschen bzw. non-binäre Personen gibt es in den unterschiedlichsten Ausprägungen. Sie können sich als doppelgeschlechtlich verstehen, als ungeschlechtlich oder als in irgendeiner Form anders außerhalb der Binarität stehend.

Nichtbinarität als Kritik am Gendermodell

Wie immer man das finden mag, es gibt diese nun einmal. Und ihre Existenz ist eine gelebte Kritik am Gendermodell, das behauptet, jede Person sei eindeutig zuzuordnen. 

Das Gendermodell kann nicht verhindern, dass es Menschen gibt, die auf die eine oder andere Weise androgyn sind. Doch es kann dafür sorgen, dass das nicht auffällt. Von der operativen Angleichung nicht genügend eindeutiger Babys bis hin zur Selbstreglementierung und Anpassung erwachsener Menschen. Die Norm von zwei deutlich getrennten Geschlechtern erzeugt die Eindeutigkeit mit, die sie als Realität behauptet. 

Es jetzt jedoch unverkennbar, dass der Zwang immer weniger akzeptiert wird. Es ist eine neue Entwicklung, dass die nichtbinären Personen sich nicht mehr verstecken. Sie werden in unserer Gesellschaft präsenter und sie treten selbstbewusster, sogar fordernder auf. Die Selbstverständlichkeit ist dahin. Und nur noch Leute, die noch nie oder jahrzehntelang nichts über biologische Erkenntnisse zum Geschlecht gehört haben, glauben noch, das aktuelle, schlichte Modell würde der Natur entsprechen.

Das Ende der Selbstverständlichkeit

Wie auch immer es kommen mag, durch die vielen Menschen die inzwischen gewollt oder ungewollt die klaren Grenzen verwischen, geht ein Eckpfeiler des Modells verloren. Es gibt Männer, die Babys gebären und Frauen mit einem Penis. Die Grenzen, die von den Verfechter*innen eines strikt binären Modells verteidigt werden, sind doch längst an vielen Stellen verwischt.

Man kann sich nicht mehr sicher sein. Mehr Menschen wird es häufiger passieren, dass sie eine andere Person nicht eindeutig einem Gender zuordnen können. Die Situation ändert sich von „das gibt es nicht“ zu „damit muss ich irgendwie umgehen“.

In der biblischen Schöpfungsgeschichte führt das Naschen vom Baum der Erkenntnis zur Vertreibung aus dem Paradies. Ich denke, dass das Essen des Apfels schon direkt Adam und Eva aus dem Paradies katapultiert hat. Im Moment der Erkenntnis, in dem Moment, in dem man beginnt, über sich selbst nachzudenken, ist man draußen.

Wenn Erkenntnis bzw. Reflektion die Vertreibung aus dem Paradies bedeutet, erklärt das eventuell den heftigen Widerstand, den man spürt, wenn man versucht Menschen zu erzählen, dass es so einfach mit Geschlecht und Gender nicht ist. Das Problem besteht nicht unbedingt darin, dass unser gesellschaftliches Modell von Geschlecht und Gender zu schlicht bzw sogar falsch ist. Es besteht vielmehr darin, dass das Modell so selbstverständlich ist, dass schon das Ansinnen, darüber Nachdenken zu müssen, als Bedrohung empfunden wird. Das nimmt Selbstverständlichkeit und bedroht ein weiteres kleines Stückchen Paradies. Das lässt man sich nicht ohne Not nehmen. Schon gar nicht, wenn man im Gegenzug dafür nichts bekommt.

Modifikation des Gendermodells

Die Ausnahmen und Zweifelsfälle führen dazu, dass wir heute über Gender reden müssen. Wir stehen nicht mehr vor der Frage, ob das in unserer Gesellschaft derzeit herrschende Modell modifiziert werden muss. Das ist inzwischen wohl verstanden, dass sich etwas ändern muss. Die Frage ist bloß noch: wie?

Diese Diskussion kann auf zwei verschiedenen Ebenen geführt werden. Man kann das System ganz grundsätzlich überdenken oder bloß an einzelnen Aspekten Korrekturen vornehmen. Die beiden Herangehensweisen lassen sich mit zwei unterschiedlichen Fragen kennzeichnen:

1. Welche und wie viele Gender gibt es?

Das ist die grundsätzliche Variante. Unser Modell sagt, dass es genau zwei gibt. Nicht alle Kulturen beantworten diese Frage genauso. Hijra, Two-Spirit, Muxe, Kathoey, Burnesha, Faʻafafine sind nur einige von vielen Bezeichnungen für dritte oder weitere Gender in Kulturen rund um den Globus.

Hier geht es darum, die enge Einfachheit des Systems zu überwinden. Der Vielfalt der Biologie mit ihren Übergängen und Zwischenformen, die vom hergebrachten Gendermodell unterdrückt wird, muss irgendwie Rechnung getragen werden. 

2. Wie erfolgt die Zuordnung zu einem der Gender?

Das bei uns herrschende Modell sieht Gender lediglich als Reflex der körperlichen Eigenschaften und eigentlich der Genitalien. Insofern kann die Zuordnung fremdbestimmt erfolgen, da alle notwendigen Informationen „offenbar“ zu sein scheinen. Was sie aber nicht sind. 

Wenn man innerhalb eines Systems von zwei Gendern bleiben möchte und an den Eckpunkten der Geschlechtsrollen nichts verändern möchte, kann man zumindest anerkennen, dass Gender nicht immer und zwangsläufig aus den Genitalien folgt. Tut man das, dann braucht man eine andere Regel, nach der eine Person einem Gender zugeordnet wird. Zur Verfügung stehen die Alternativen „fremdbestimmt“ oder „selbstbestimmt“.

Widerstand gegen Veränderungen

Weil das uns vertraute Modell von Gender so schön einfach und praktisch ist, lösen Überlegungen es zu verändern, selbstverständlich große Widerstände aus. Dies umso mehr, je grundlegender in das Modell eingegriffen werden soll.

Den biologischen Argumentationen ist durch den Stand der Wissenschaft mittlerweile der Boden entzogen. Die Behauptung, in der Natur gebe es nun einmal nur männliche oder weibliche Individuen, ist schlicht falsch.

Häufig wird an dieser Stelle mit der Relevanz argumentiert. So wird gesagt, dass es zu wenige Personen sind, die unter dem Modell leiden. Die große Mehrheit käme damit gut zurecht. Das mag sein, aber es gibt nun einmal Personen, die unter den engen Vorgaben des Modells leiden, weil sie nicht hineinpassen. Wann ist eine Bevölkerungsgruppe klein genug, damit man sie berechtigterweise diskriminieren darf? Im Personenstandsrecht wurde auf Druck des Bundesverfassungsgerichts diese Frage inzwischen entschieden. Siehe dazu Das dritte Geschlecht. Allerdings wird die Existenz von nichtbinären Personen in unserer Gesellschaft auch immer noch nicht ernst genommen. Die Personen mit einem solchen Personenstand werden in den Statistiken z.B. zu gleichen Teilen den Männern und Frauen zugeschlagen (siehe dazu Wo sind die diversen Menschen?). Im Ergebnis werden sie dadurch gesellschaftlich unsichtbar und erscheinen als irrevelante winzigkleine Minderheit.

Am wenigsten weitreichend, aber auch am schwersten zu entkräften sind die pragmatischen Argumente: Wie soll man von Personen sprechen, die weder Mann noch Frau sind? Brauchen wir dann noch mehr Toiletten? Etc.

Meiner Einschätzung nach wird sich das alles finden. Die Sprache wird sich an die gesellschaftlichen Gegebenheiten anpassen. Vor 50 Jahren gab es noch kein Internet. Trotzdem haben wir Worte für all die neuen Technologien und Möglichkeiten. Bei der Toilettenfrage handelt es sich sowieso nur um ein hochgespieltes Scheinproblem. Vermutlich gibt es für die meisten Menschen auf diesem Planeten keine gendergetrennten Toiletten. Wir haben sie zufällig in manchen Bereichen.

Plädoyer

Es geht beim Gendermodell im Kern nicht darum, wie richtig es ist. Denn die biologische Vielfalt könnte auch das differenzierteste Modell nicht vollständig abbilden. Seine Aufgabe ist es vielmehr, der Gesellschaft ein funktionales Raster bereitzustellen, das aber auch hinreichend flexibel ist, damit möglichst keine Individuen ausgegrenzt werden.

Selbstverständlich ist es schön, ein einfaches Modell mit schlichten Zuordnungskriterien zu haben. Doch kann seine Praktikabilität wirklich das letzte Argument sein, wenn durch die Vielfalt der Menschen und der Natur, seine Einfachheit und Rigidität dazu führt, dass viele Menschen außerhalb des Rasters sind und nur mit Gewalt hineingepresst werden können?

Angesichts der vielen Durchbrechungen, die es mittlerweile gibt, hat das Beharren schon etwas von Realitätsverleugnung. Natürlich wäre es schön, wenn es ganz einfach wäre. Ist es aber nicht.

Es wird, weil Geschlecht so wichtig ist, immer irgendein gesellschaftliches Modell davon geben. Wie alle Modelle, wird es die komplexe Realität vereinfachen. Doch es muss und kann besser sein als unser Aktuelles.

In a nutshell

Unser Gendermodell ist einfach und funktional. Nichtbinarität ist gelebte Kritik daran. Aber ist sie wirklich schlimm? Unsere Gesellschaft hat sich so weiterentwickelt, dass wir uns etwas mehr Realitätsnähe erlauben müssen.

Querverbindungen

© Jula Böge 2024

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