Da zeigt jemand mit dem Finger auf mich und Leute fangen an zu lachen! Ich möchte weg, möchte mich verstecken, unsichtbar sein. Ich schäme mich.
Die Scham ist das menschlichste Gefühl und für viele Transgender eine ständige Begleiterin.
„Trans and proud!“?
Stolz darauf sein, dass man trans ist. Ich habe diesen Gedanken immer als vollkommen fremdartig erlebt. Nichts, dass etwas mit mir zu tun hat. Bei mir ist es die meiste Zeit das Gegenteil von Stolz: ich bin schon froh, wenn ich es schaffe mich nicht allzusehr dafür zu schämen, dass ich trans bin.
Tatsächlich würde ich auf Frage nach dem wichtigsten Gefühl von Transpersonen antworten: „Scham!“ Das wäre immer meine erste Wahl als das prägende Gefühl. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es irgendeine Transperson gibt, die mit diesem Gefühl nicht ernsthaft gerungen hat.
Ich behaupte, von mir selbst ausgehend, dass wir Transgender meist kein positives Selbstbild haben. Wir schämen uns dafür, dass wir so sind, wie wir sind und nicht anders sein können. Wir versuchen zu überwinden was wir sind und weil das unmöglich ist, versuchen wir zumindest vor aller Welt zu verbergen, was wir sind. Wenn wir uns für unsere Körper, die nicht zu unserer Identität passen, nicht schämen würden, würden wir dann so verzweifelt versuchen, unsere Besonderheit vor der Welt zu verbergen und unsere Körper an die Norm unserer Gesellschaft für Männer und Frauen anzupassen?
Mich haben Gefühle von Scham und Schuld jedenfalls mein Leben lang begleitet. Selbst als mir klar geworden war, dass ich keine Schuld hatte, weil ich mir weder ausgesucht hatte, so zu sein, noch es ändern konnte, empfand ich immer noch Scham. Wie viele Betroffene schämte ich mich dafür, dass ich nicht so war, wie ich im Sinne meiner Familie, Freunde und Verwandten sein sollte. Ich schlage mich immer noch damit herum.
Ich habe mittlerweile sogar schon eine „Meta-Scham“ entwickelt: ich schäme mich dafür, dass es mir nicht gelingt, die Gefühle von Scham zu überwinden.
Kurz aber leider nicht gut: in meinem Leben gibt es jede Menge Scham. Zeit also, dass ich mich diesem Thema stelle.
Was ist Scham und wie funktioniert sie?
Grundsätzlich ist Scham etwas Gutes. Schamhaft sein ist eine Tugend und kein Laster. Das merkt man schon daran, dass „Schamlosigkeit“ eindeutig kein Lob ist. Die Scham schützt uns davor, in Konflikte mit der Gesellschaft zu geraten, sie hält uns von unangemessenem Verhalten ab. Auf diese Weise bewahrt uns die Scham vor möglichen Entwürdigungen. Wenn man etwas tut, wofür man sich schämen müsste, wird man buchstäblich gewarnt: “Du machst dich lächerlich!”.
Doch Scham hat auch negative Aspekte. Scham ist gekoppelt mit einem negativen Selbstbild, denn sie ist das Gegenstück zu Stolz und Würde. Ich kann nicht gleichzeitig würdevoll sein und voller Scham.
Ein genauerer Blick:
- Scham betrifft die Verletzung von Normen: es geht darum wer und wie ich bin und ob das gut ist (dann empfinden wir Stolz) oder nicht (dann schämen wir uns für unsere Unzulänglichkeit) Scham ist etwas, was man dafür empfindet, wie bzw was man ist. Hier geht es um ein von der Norm negativ abweichendes Sein.
Wikipedia sagt: Scham ist ein Gefühl der Verlegenheit oder der Bloßstellung, das (durch Verletzung der Intimsphäre auftreten kann oder) auf dem Bewusstsein beruhen kann, (durch unehrenhafte, unanständige oder erfolglose Handlungen) sozialen Erwartungen oder Normen nicht entsprochen zu haben. - Scham braucht Beobachter: Scham braucht eine reale oder nur gedachte Öffentlichkeit. Wenn ich weiß, dass ich alleine bin, dann schäme ich mich nicht. Wenn ich jedoch beobachtet werde oder mir nur vorstelle, dass andere mich beobachten, dann setzt die Scham ein. Ich fürchte, dass ich so gesehen werde, wie ich gerade bin.
Scham macht mich zum Objekt: in dieser Betrachtung werde ich zum Objekt der realen oder nur imaginierten Betrachtung durch andere. So schreibt Sartre:
„Die Scham […] ist […] Scham über sich selbst, sie ist Anerkennung des Tatbestandes, dass ich wirklich jenes Objekt bin, das der Andere sieht und aburteilt“ (Das Sein und das Nichts, S. 348). - Scham kommuniziert Verachtung: Der Gegenbegriff zu Scham ist Stolz!
- Scham führt zu Unsichtbarkeit: Wofür wir uns schämen, das verbergen wir.
„Der Schamerfüllte möchte […] die Welt zwingen, ihn nicht anzusehen […]. Er würde am liebsten die Augen aller anderen zerstören. Stattdessen muss er seine eigene Unsichtbarkeit wünschen.“
Erik H. Erikson: Kindheit und Gesellschaft, Stuttgart 1999, S. 243 ff.
Wofür genau schäme ich mich?
Wenn man genauer hinsieht, gibt es drei verschiedene Aspekte der Scham:
Beschämt werden
“Was ist dir das Menschlichste? Jemandem Scham ersparen.“
Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft
Das ist meist das erste, was einem einfällt: konkrete Situationen, in denen uns Menschen dazu bringen, dass wir uns schämen. Das gibt es. Aber es ist in unserer Gesellschaft sehr, sehr selten.
Unsere Gesellschaft beschämt mich verblüffend wenig. Sie ist toleranter und akzeptierender mir gegenüber, als ich es selbst bin.
Das Tribunal in mir selbst
Trotzdem denken vermutlich eine ganze Menge Menschen, dass ich ziemlich viel Grund habe, mich zu schämen. Oder denke ich nur, dass die Menschen das denken? (Siehe dazu ausführlicher: Metabild
Meist ist es nämlich so, dass wir gar keine Beschämung durch Dritte erfahren, sondern dass wir in uns selbst die Normen der Gesellschaft tragen und wir uns selbst vor dieses Tribunal stellen. Wir werden gar nicht in der Realität angestarrt oder gar der Lächerlichkeit preisgegeben, sondern unsere eigene Phantasie spielt uns diese Erfahrungen vor.
Das sind die wirklichen Mauern und der hauptsächliche Grund, warum sich Transgender vor der Welt verstecken. Wir nehmen konkrete Erlebnisse der Beschämung bereits in uns selbst vorweg.
Was passiert da? Ich habe die Vorstellungen der Gesellschaft, wie eine “richtige” Frau zu sein hat, wie sie aussehen und welche körperlichen Eigenschaften sie haben soll verinnerlicht. Mit diesem Ideal vergleiche ich mich und erkenne die Abweichungen. Ich möchte schön sein, grazil, elegant … mit einem Wort feminin. Ich betrachte mich mit den kritischen Augen der Gesellschaft und habe das Gefühl, deren Ansprüchen nicht gerecht werden zu können.
Ich wünschte, ich hätte die Konsequenz, dann entweder ein Leben als Mann zu akzeptieren oder eben entschlossen zu mir selbst zu stehen und so wie andere es können einfach zu sagen: “Tschaka, so bin ich eben, kommt einfach damit klar!” Und dann schäme ich mich dafür, dass ich weder das Eine noch das Andere kann.
Fremdschämen
Doch selbst, wen wir mit uns selbst im Reinen sind, heißt das nicht, dass wir mit Scham nichts zu tun hätten. Denn es gibt Menschen, die sich wegen uns schämen. Sie schämen sich dafür was ich bin und was ich tue. Mit dieser Sorte Scham werden wir insbesondere durch unsere Familien konfrontiert. Näheres dazu im Artikel Familie. Denn wenn wir uns gegenüber der Gesellschaft bekennen, bedeutet das für unsere Familien, dass sich sich zu uns positionieren müssen.
Auch fremde Menschen finden mich vielleicht peinlich. Sie überlegen, ob sie sich trauen würden, so als Frau in die Öffentlichkeit zu gehen. Das Ergebnis ist: nein, würden sie nicht. In weiblicher Rolle in die Öffentlichkeit und dabei als körperlicher Mann erkennbar sein? Niemals! Und sie schämen sich stellvertretend dafür, dass ich es offensichtlich tue und nicht besser hinkriege.
Es ist leider nicht so, dass ich einfach sagen kann, dass mich diese Scham anderer Leute nicht interessiert. Sie interessiert mich und sie beeinträchtigt mich, denn nur wird dadurch vermittelt, dass sich meine Normen, von denen anderer unterscheiden. Ich nehme die Scham anderer als Kritik an mir wahr.
Kein Entkommen
Ich kann der Scham nicht entkommen.
Als Frau lebe ich in der ständigen Scham, nicht den Körper zu haben, den ich als Frau haben sollte und den ich auch lieber hätte. Weil die Körperlichkeit sichtbar ist, lebe ich in der Angst, dafür von anderen bloßgestellt und damit beschämt zu werden.
In männlicher Rolle schäme ich mich dafür, dass ich Angst habe, die Welt sehen zu lassen, wer und wie ich wirklich bin. Da entspreche ich nicht den Erwartungen, die ich an mich selbst habe: Ehrlichkeit und Mut und so.
Wie können Transpersonen die Scham überwinden?
Wenn ich der Scham nicht entkommen kann, dann muss ich Wege finden, mit ihr umzugehen.
Da es sich bei der Scham um ein Gefühl handelt, dass die Beziehung des Individuums zur Gesellschaft bzw. ihren Normen betrifft, gibt es zwei unterschiedliche Ansatzpunkte: das Individuum kann sich an die Normen der Gesellschaft anpassen oder es kann seine Einstellung zu den gesellschaftlichen Normen ändern.
Unsichtbar sein
Der erste Weg bedeutet für Transgender, dass die Eigenschaft, trans zu sein aus der Wahrnehmung verschwinden muss. Wenn ich sie so unterdrücke, dass niemand sie bemerken kann, dann brauche ich mich nicht zu schämen. Oder wenn ich mich bzw meinen Körper konsequent dahingehend verändere, dass niemand meine genetische und/oder körperliche Besonderheit wahrnehmen kann, dann muss ich mich auch nicht schämen. Wer unauffällig in seinem Gender ist, hat kein Problem. Viele Transgender setzen auf diese Strategien. Wie gut sie funktionieren, hängt stark von den individuellen, körperlichen Voraussetzungen.
Letztlich ist das jedoch trotzdem nur eine Scheinlösung. Wenn ich der Scham folge und mich unsichtbar mache, dann habe ich verloren. Ich mache die Ablehnung von Transgendern zu meinem eigenen Thema und sorge dafür, dass ich als Abweichung von der Norm verschwinde.
„Der Soziologe Norbert Elias sagt, die Funktion der Scham sei die Umwandlung von Fremd- in Selbstzwänge. Ich halte es für sehr wichtig, dass wir uns diese Mechanismen klar machen. Auf unsere Situation übertragen bedeutet das, Queerfeindlichkeit findet nicht nur „da Draußen“ statt, sondern auch in unserem Inneren. Mit Hilfe der Scham pflanzt sich die Gewalt der Heteronormativität in unser Gefühlsleben ein und sorgt dafür, dass wir uns selbst kontrollieren, zensieren, blockieren. Scham ist das Scharnier zwischen Diskriminierung und Selbsthass. Dieser Selbsthass wirkt, und zwar auch und vor allem dann, wenn wir es nicht wahrhaben wollen.“ (aus Schwule Scham von Zaunfink)
Die innere Einstellung
„Das Siegel der erreichten Freiheit: Sich nicht mehr vor sich selbst schämen.“
Irvin Yalom, Und Nietzsche weinte
Letztlich kann ich die Scham nicht dadurch überwinden, dass ich mich selbst normentsprechend mache. Ich habe keine realistische Chance, als Frau komplett unauffällig zu sein. Und ich kann auch nicht anders, als meiner Identität Ausdruck zu verleihen. Ich muss mich der Welt als Frau stellen, weil das nun einmal meine innere Wahrheit ist, die ich nicht komplett verleugnen kann.
Also muss ich an der anderen Stelle ansetzen: An meiner inneren Überzeugung, wie die gesellschaftliche Norm ist.
Den ersten Schritt dazu habe ich hier getan. Man muss sich bewusst machen, was da im eigenen Inneren vorgeht. Dass man sich unter eine gesellschaftliche Norm beugt, der man ohne eigene Schuld daran zu haben nun mal nicht genügen kann, weil wir Menschen nicht alle so sind, wie die Norm es verlangt.
Der entscheidende Punkt ist jedoch, dass die Scham sehr viel mehr ein persönliches Thema ist, als konkrete Erfahrungen in der Öffentlichkeit. Weil sich der auf uns gerichtete Zeigefinger, vor dem wir uns verstecken wollen in den meisten Fällen nur in unserem Kopf befindet, können wir ihm etwas entgegensetzen.
Das Erleben von Akzeptanz, als die Person, die ich bin, ist dazu das wohl wichtigste, vielleicht sogar das einzige Mittel, das Tribunal im eigenen Kopf milde zu stimmen. Nichts hat mir mehr geholfen, Scham zu überwinden als die Erfahrung, dass Menschen auf mich positiv bzw neutral reagierten. Wenn andere in mir keine negative Normabweichung sehen, dann muss ich das auch nicht. Wenn andere mich akzeptieren können und mein Anblick sie nicht negativ berührt, dann gibt für mich keinen Anlass, mich für diese Zumutung zu schämen. Es ist dann nämlich gar keine.
Deshalb sind andere Menschen so wichtig. Siehe auch meinen Artikel Feedback. Ich kann nur durch andere Menschen lernen, dass die Normen, die mich zur Scham verurteilen gar nicht absolut gelten und kann sie demzufolge durch für mich freundlichere ersetzen. Das innere Tribunal, das mich verurteilt, hat plötzlich ein äußeres Revisionsgericht, das mich freispricht.
Mein Traum: das Ende der Scham
Was ich mir für mich und alle anderen Transgender wünsche: ich möchte mich endlich nicht mehr dafür schämen, dass ich trans bin. Und ich möchte, dass sich auch niemand anderes deshalb schämen muss.
Weitere Hinweise
- Von der Scham in queeren Kontexten berichtet https://femmebutchvision.wordpress.com/2016/06/14/scham-schuld-und-transition/
- Lesenswert: https://derzaunfink.wordpress.com/2016/01/17/schwulescham/#more-2157
- Ausführlich: Jens León Tiedemann, Die intersubjektive Natur der Scham . Dissertation. FU Berlin, 2007.
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© Jula Böge 2017