Stell dir vor, es ist total normal, dass du eine Frau bist.
Genau das habe ich an einem Winterwochenende gemeinsam mit Freunden erlebt. Es war nicht das erste Mal, dass ich für einige Tage Frau war. Es war nicht einmal das erste Mal, dass ich mir über meine weibliche Erscheinung keine Gedanken gemacht habe. Aber es war das erste Mal, dass ich in dieser Intensität erlebt habe, dass es auch für alle anderen selbstverständlich ist.
Vielleicht hat mich das Erlebnis gerade deshalb so beeindruckt, weil es mich einiges an Überlegung und Überwindung gekostet hat, das Wochenende tatsächlich dafür zu nutzen, Frau zu sein. Und so wurde es ein besonderes Erlebnis, gerade weil es nichts Besonderes war.
Vorbereitungen
Es sollte ein kaltes Januarwochenende in einer abgelegenen Ecke des Bayer. Waldes werden. Temperaturen um minus 10 Grad und natürlich Schnee. Zusammen mit drei befreundeten Ex-Kolleg/innen wollten wir einen weiteren ehemaligen Kollegen besuchen, der mit Frau und Schwiegermutter dort hin gezogen war. Alle vier Kollegen wussten von mir und hatten mich auch schon mal als Frau gesehen. Anders war es mit der Frau des Besuchten, die vielleicht bis kurz vor dem Wochenende nicht einmal was von meiner Besonderheit wusste. Die im Haus lebende, demente Schwiegermutter wusste definitiv nichts.
Das Schwierigste für mich war, mir selbst eine Meinung zu bilden, was ich überhaupt will. Gespräche mit Freundinnen, die ich um Rat befragte, ergaben ein „Mach doch, wenn du meinst.“ Wegen der dementen alten Dame hatte ich bei den Gastgebern per Mail nachgefragt. Könnte die es eventuell irritieren? Antwort: Kein Problem, die ist dement. Also blieb es bei mir: ich musste einfach für mich entscheiden, was ich will.
Diese Entscheidung fiel schließlich durch eine Negativabgrenzung. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich abends genervt sein würde, wenn ich als Mann dort wäre und ich darüber nachdenken würde, dass ich gerade genauso gut Frau sein könnte. Da ich diese Genervtheit nicht haben wollte, war meine bevorzugte Geschlechtsrolle klar.
Nach der Arbeit zog ich mich bei einer mitreisenden Freundin um. Spontan entschied ich mich gegen einen Rock als Reisekleidung und behielt die Jeans an, die ich schon – casual friday sei Dank – im Büro getragen hatte. Folglich bestand das Umstyling im Wesentlichen aus Makeup, Frisur und Schmuck.
Weil wir zu viert in einem Wagen fahren wollten, hatten wir uns an einem Treffpunkt verabredet. Ob wohl ich den selbst ausgesucht hatte, war er zwar praktisch, aber für mich doch etwas beängstigend, denn er war schon nahe an meinem Wohnviertel. Zwar bewege ich mich in der Stadt inzwischen grundsätzlich unbefangen, aber insbesondere wegen meiner Frau sind mir Orte, an denen ich eine höhere Wahrscheinlichkeit habe, Bekannte zu treffen, nicht so lieb. Die anderen beiden Mitfahrenden kannten meine weibliche Version schon und reagierten auf sie, wie erwartet: gar nicht. Dass sie mich anders wahrnahmen merkte ich bloß daran, dass sie mich als Jula ansprachen.
Ankunft im Bayer. Wald
Wegen der Frau meines Kollegen Claus war ich schon etwas aufgeregt. Zwar hatte ich keine wirklichen Bedenken, aber für sie musste mein Aussehen schon eine Überraschung sein. Es war aber keine.
Jedenfalls keine für mich spürbare. Sie behandelte mich wie immer – herzlich und freundlich. Ich habe keine Verunsicherung, Irritation oder was auch immer gespürt. Wenn überhaupt, dann war da nur der Hauch eines Zögerns, den ich mir aber vielleicht auch nur eingebildet habe, weil ich dachte, sie müsse irgendeine merkliche Reaktion zeigen. Gesagt hat sie zu meiner weiblichen Erscheinung nichts.
Bei der Hausführung wurden wir auch mit der alten Dame bekannt gemacht. Ich habe mich vorsichtig etwas im Hintergrund gehalten, soweit das bei Gruppen von fünf Personen halt geht. Wieder keine Reaktion und damit war auch meine Befürchtung, vielleicht von ihr besonders registriert zu werden, zerstreut.
Nach einem Pläuschchen und dem Beziehen der Zimmer sind wir dann zum Abendessen aufgebrochen. Da wir auf dem Heimweg durch den Wald zurückwandern wollten, war dicke Kleidung angesagt, Bergschuhe und mehrere Lagen Unterwäsche waren unabdingbar. Der Gasthof hatte bloß für uns bzw. wegen uns geöffnet. Deshalb war auch die persönliche Begrüßung durch den Wirt und seine Mutter selbstverständlich. Ich meine zwar, anfänglich ein kleines Irrlichtern in seinen Augen bemerkt zu haben, doch im Folgenden war nichts mehr zu spüren. Weil es keine anderen Gäste gab, stand er irgendwann an unserem Tisch und erzählte ausführlich von seinem Leben, seiner Familie und der Region.
Als wir wieder zurück im Haus waren, haben wir dann noch eine Weile zusammengesessen und geredet. Mehr aus Prinzip als aus Notwendigkeit habe ich einen Rock angezogen. Die Leggings wären wahrscheinlich noch bequemer gewesen und der Dresscode war sowieso „gemütlich-häuslich“ und definitiv nicht formal.
Schneeschuhwanderung und Ceske Krumlov
Die größte Schwierigkeit am Wochenende: ich musste früher als die anderen aufstehen, weil ich mich nicht mit ungeschminkt-männlichem Gesicht vor den anderen sehen lassen wollte und deshalb viel länger im Bad brauchte. Folglich war für mich die Nacht recht kurz, aber Pflicht ist Pflicht. Ich erschien pünktlich und frisch gestylt zum Frühstück.
Nach den Erfahrungen vom Vorabend wusste ich, dass für die geplante Schneeschuhwanderung eine Strumpfhose unter der Jeans warm genug sein würde. Tatsächlich war diese Kombination zumindest für diesen Teil des Tagesprogramms sogar noch zu warm. Wir waren nämlich in 1.300 m Höhe unterwegs – und da schien die Sonne. Und ich schwitzte. Kann man beim Schneeschuhwandern weiblich sein? Überhaupt finde ich sportliche Aktivitäten geschlechtsneutral. Im Gegensatz zu anderen Aktivitäten, die eher sozial sind, ist man beim Wandern, Laufen, Radeln doch hauptsächlich man selbst, ganz ohne Geschlecht.
Doch das wechselt sofort, wenn man in die Gesellschaft anderer Menschen kommt, die einen natürlich auch mit der Eigenschaft „Mann“ oder „Frau“ wahrnehmen. Bei der Pause in der Berghütte war ich komplett durchgeschwitzt. Zu meiner Erleichterung erregte ich auch dort keinerlei Interesse. Niemand schaute länger auf die markante, große Frau mit der ruinierten Kurzhaarfrisur.
Eine gute Stunde später schwitzte ich nicht mehr und war froh über jede Lage Kleidung, die ich anhatte. Ich fror. In der wunderschönen, barocken, tschechischen Stadt Cesky Krumlov (Krumlau) war es lausig kalt.
Der Stadtspaziergang verlief, was das Interesse an mir anging, ebenso wie alles zuvor. Die anderen Spaziergänger waren viel zu sehr mit gucken und frieren beschäftigt und die Verkäuferinnen in den Läden wollten etwas verkaufen. Auch die Bedienungen in dem noblen Hotelrestaurant, dessen Essen deutlich schlechter war als das Ambiente hoffen ließ, widmeten mir nicht mehr als das professionell notwendige Interesse.
Zurück im Haus stürmten alle in die Duschen, um den Schweiß des Tages abzuwaschen. Ich natürlich auch. Duschen! Ach ja. Ich habe zwar die Haare gewaschen, aber hinterher das leicht verwaschene Makeup nicht komplett erneuert, sondern bloß etwas renoviert. Ich habe die Haare aufgeföhnt und gut. Jula ganz nah am Urzustand. Wenn ich anders aussah, dann haben es die anderen mich nicht merken lassen. Alles wie gehabt.
Sonntag
Am Sonntag besuchten wir nach dem Frühstück noch ein Freiluftmuseum. Wieder trug ich meine Jeans. Im Grunde genommen hätte ich auf vieles an mitgenommenen Klamotten verzichten können. Röcke braucht man bei so einem Wochenende jedenfalls nicht. Bzw. höchstens um sich selbst zu beweisen, dass man gerade Frau ist und Frauen halt Röcke tragen dürfen, wenn sie es wollen.
Im Bauernhofmuseum und im zugehörigen Gasthof, in dem wir sehr lecker gegessen haben, war dann wieder alles wie gehabt: einige verbale Kontakte zu anderen Gästen und dem Personal, aber keinerlei für mich erkennbare Irritation bei irgendwem.
Dann kamen schon die Abschiede: Abschied von unseren Gastgebern, Heimfahrt, Abschied von den Mitfahrenden – letzte Gelegenheiten meine Erscheinung oder meine weibliche Rolle irgendwie zu kommentieren. Sie verstrichen allseits ungenutzt. Es wurde nichts gesagt, ich wurde nichts gefragt, ich habe nichts gefragt, ich habe nichts erklärt.
Wirkungen
Letztendlich war es genau so, wie ich es erhofft hatte: meine gewählte Geschlechtsrolle war weder Thema, noch hat sie den Verlauf des Wochenendes irgendwie beeinflusst. Überhaupt nichts wurde speziell wegen meiner Besonderheit getan oder gelassen. Das Wochenende habe ich so erlebt, wie es wohl auch gewesen wäre, wenn ich für die beteiligten Personen immer schon Jula gewesen wäre.
Was bedeutet „Frausein“ überhaupt in solchen Zusammenhängen? Das einzig wirklich geschlechtsspezifische ist – wenn man es mal auf den Punkt bringt – doch bloß, ob ich im öffentlichen Raum auf die Männer- oder Frauentoilette gehe. Alles andere unterscheidet sich nicht. Jedenfalls dann nicht, wenn die Unternehmungen Stadtbesichtigung oder Schneeschuhwanderung sind.
Auch für meine Bekannten bin ich primär – wenn nicht sogar ausschließlich – eine Person mit bestimmten Eigenschaften, zu denen irgendwo ganz hinten und nicht besonders wichtig auch eine geschlechtliche Einordnung gehört.
Wenn man etwas tut, dann hat das Auswirkungen. Immer. Es hat Wirkungen auf beteiligte, andere Menschen und es hat Wirkungen auf mich selbst.
Habe ich bei den andern etwas verändert? Ungeachtet des kompletten Fehlens von irgendwelchen Rückmeldungen zu meiner weiblichen Präsentation, glaube ich das schon. Ich habe dokumentiert, dass dieser Teil zu mir gehört und dass ich zu ihm stehe.
Die Wichtigkeit, die meine weibliche Identität für mich hat, lässt sich ohne weitere Erklärungen, allein über ein als Frau verbrachtes Wochenende besser vermitteln, als mit vielen Erklärungen. Und in Shirt und Jeans vielleicht sogar besser, als in Minirock und Pumps. Denn der Irrtum, den Menschen wie ich häufig hervorrufen ist der, dass wir Frau sein wollen, um die Klamotten tragen zu können. Das ist, was mich betrifft, auch gar nicht komplett falsch. Aber mindestens ebenso sehr möchte ich die Klamotten tragen, um meinen Anspruch als Frau wahrgenommen zu werden zu dokumentieren.
Es würde mich sehr wundern, wenn dieser Anspruch, zumindest auch als weiblich gesehen zu werden, nicht deutlicher geworden wäre. Ich habe ein massives Statement über mich abgegeben – ohne ein Wort sagen zu müssen.
Hatte es Wirkungen auf mich selbst?
Nur für mich selbst war es anders. Und nicht bloß, weil ich in männlicher Version weniger Zeit im Bad verbracht hätte. Ich hätte mich nämlich die ganze Zeit und vor allem jedes Mal wenn ich mit Männernamen angeredet worden wäre, darüber geärgert, dass ich diese wunderbare Gelegenheit ausgelassen habe. Frauseinkönnen ist für mich nämlich immer noch die wunderbare Ausnahme.
Es hat mir so gut getan! Ich habe genau das erlebt, was ich mir gewünscht habe: Weibliche Normalität. Stopp. Das muss ich präziser sagen, denn für mich war es ja, wie gesagt, ein besonderes Erlebnis. Und das bestand darin, dass meine weibliche Seite von den anderen Menschen als selbstverständlich bzw „normal“ hingenommen wurde. Anders formuliert: es war für mich spektakulär, wie unspektakulär es doch sein kann, wenn ich Frau bin. Dann ist das halt so und basta – kein Anlass darüber ein Wort zu verlieren.
Und weiter?
Wenn ich wissen möchte, wie es für die anderen war, dann muss ich das tun, was ich an dem Wochenende vermieden habe: ich müsste nachfragen.
Allerdings weiß ich nicht, ob ich dabei wirklich etwas erfahren oder bloß den Zauber zerstören würde. Wenn es etwas über mich in dieser Rolle zu sagen gäbe, eventuell sogar etwas als störend empfunden worden wäre, dann hätte doch sowieso jemand etwas gesagt, oder? Was also könnte ich erfahren?
© Jula 2010