Vor kurzem noch führte die Erwähnung des Namens zu einem „Jenner? Nie gehört. Muss man den kennen?“. Inzwischen ist die letzte Frage beantwortet. Ja, man muss. Man konnte es gar nicht vermeiden, von Caitlyn Jenner zu hören oder lesen.
Wenn eine Person so nachdrücklich die öffentliche Wahrnehmung von Transgendern beeinflusst, stellt sich für mich unausweichlich die Frage „Gut oder böse?“ Profitieren die Gruppe der Transmenschen insgesamt und ich im speziellen davon, dass so viel öffentliche Aufmerksamkeit für Caitlyn Jenner entstanden ist? Oder hat es für uns eher Nachteile?
Letztendlich ist meine Antwort eindeutig. Ja, das war gut und wichtig. Trotzdem lohnt ein Blick auf die Details.
Das Positive
Endlich hat sich eine wirklich berühmte Person dazu bekannt, Transgender zu sein! Also nicht eine, die deshalb berühmt wurde, weil sie trans ist, sondern eine, die schon vorher berühmt war.
Okay, auch Lana Wachowski war schon als Mann berühmt. Aber eben nicht so berühmt. Und sie hat es bei weitem nicht so in die Breite der Gesellschaft geschafft. Außerdem: Lana ist Künstlerin! Sie ist zwar nicht im Selbstdarstellungsbusiness, wo vornehmlich die eigene Haut zu Markte getragen wird, sondern Regisseurin. Trotzdem werden Kulturschaffenden viele Verrückheiten nicht bloß verziehen, sondern sie sind geradezu gewünscht. Allerdings waren Lana und ihr Bruder ungeachtet der Erfolge ihrer Filme schon immer eher scheu und entzogen sich den Zwängen der Selbstvermarktung zum Zweck der Vermarktung ihrer Filme.
Doch Jenner war Zehnkämpfer, ein „König der Athleten“! Er war Goldmedailliengewinner bei den Olympischen Spielen 1976, ein Sportheld in den USA! Ein Vorzeigemann, so feminin wie der Marlboro Mann und in den USA ebenso bekannt. In Deutschland müssten sich schon Henry Maske UND Till Schweiger als Frau erklären, damit ein ähnlicher Effekt erzeugt werden könnte. Gerade weil Jenner als Mann so ein Supermann war, wird deutlich, dass man aus dem Äußeren nichts schließen kann.
“The uncomfortableness of being me never leaves all day long,” he continued. “I’m not doing this to be interesting. I’m doing this to live.” Bruce Jenner vor seinem Genderchange im Interview mit Buzz Bissinger
Dass gerade jemand wie Jenner sich als transsexuell outete, hatte sehr viel mediale Aufmerksamkeit zur Folge. Ermutigend war dabei, dass sehr viele bekannte Personen sich solidarisch erklärten. Durch Caitlyn Jenner ist Transidentität gesellschaftsfähiger geworden.
In dieselbe Richtung gehört, dass sie recht spät, also mit über 60 Jahren den Weg gegangen ist. Das macht deutlich, dass das Thema lange vor anderen Menschen verborgen bleiben kann
Von all dem profitieren auch wir Unbekannten, denn es wurden Regeln in Bewusstsein der Masse gespült, die immer noch zu unbekannt sind. Zum Beispiel, wie man von einer Person spricht, die ihre Geschlechtsrolle gewechselt hat. Nämlich schlicht gemäß der Geschlechtsrolle, die die Person für sich reklamiert. Es war wohltuend für mich, wie bemüht die Medien waren, immer korrekt von ihr als Frau zu sprechen und zu erleben, wie die Schlauberger, die meinten noch von „ihm“ reden zu können, öffentlich Watschen erhielten. Weil sie Republikanerin und als solche einflussreich ist, hat sie damit vermutlich auch Personenkreise zu korrekter Ansprache gezwungen, die das für sich vermutlich ansonsten ausgeschlossen hätten.
Das Negative
Wo Licht ist, ist auch Schatten. Das kann nicht anders sein. Es gibt Aspekte an der Präsentation von Caitlyn Jenner, die mich misstrauisch machten, ob das alles wirklich gut ist.
Als erstes störte mich die klischeehafte Weiblichkeit, die von Caitlyn Jenner präsentiert wird. Muss man denn wirklich so hyperfeminin sein, um abgenommen zu kriegen, dass man wirklich weiblich ist? Musste die Selbstdarstellung als Objekt mit Bedienung von Männerfantasien wirklich sein.
Lana Wachowski kriegt es doch auch hin, in der Öffentlichkeit lustig und natürlich und vor allem feminin zu sein.
Ich möchte Caitlyn Jenner nicht das Recht bestreiten, die Sorte Frau zu sein, als die sie sich wohl fühlt. Und wenn diese Frau so klischeehaft feminin ist, dann ist das natürlich okay. Schwierig finde ich nur, dass ebenso wie bei den positiven Aspekten auch bei den kritischen die Wirkung von Jenner über ihre eigene Person hinausreicht und als Muster dafür genommen wird, wie Transgender im Allgemeinen so sind.
Jenner ist eine Republikanerin. Außerdem war sie eine Unterstützerin von Trump. Dementsprechend ist es folgerichtig, dass sie eine konservative Sicht auf die Geschlechter vertritt. Mit ihrem zumindest in der Öffentlichkeit harten Schnitt, bei dem sie erst ganz Mann und dann nach einer Pause ganz Frau präsentierte, scheint Jenner ein Entweder-oder zu propagieren. Damit liefert sie scheinbar gerade im Wechsel die Bestätigung des strikten Systems der zwei Geschlechter. Womit die Gefahr verbunden ist, dass sie zumindest aus meiner Sicht Wasser auf die falschen Mühlen leitet. Es gab auch in Deutschland Beifall von der falschen Seite. So schrieb Jan Fleischhauer in seiner Kolumne:
„Transsexuelle kämen nie auf die Idee, die Geschlechterfrage für verhandelbar zu halten. Ihre Welt ist bipolar: Entweder man ist ein Mann oder eine Frau. Deshalb wird auch mit allen Kräften versucht, die Grenze zu überwinden, wenn man bei Geburt auf der falschen Seite gelandet ist.„
Das ist oberflächlich betrachtet nicht falsch. Transgender und insbesondere Transsexuelle sind in dieser Frage häufig konservativ. Das ist zwar selbstquälerisch, weil die meisten den Ansprüchen an die Eindeutigkeit der Geschlechter nie werden genügen können und sie selbst Beweis sind, dass es nicht stimmt. Doch sie tun es trotzdem. Aber wie gesagt, es ist „häufig“ so und eben nicht immer! Viele, insbesondere jüngere Transgender, sehen die Sache anders. Sie sind nicht der Meinung, dass mit ihrem Körper etwas falsch ist, sondern vielmehr mit dem strikt bipolaren Modell von Geschlecht, das Konservative wie Jan Fleischhauer für so selbstverständlich halten. Tatsache ist auch, dass Caitlyn Jenner zu den ca. 75 % der amerikanischen Transgender gehört, die ihre Genitalien nicht haben operieren lassen.
Vielleicht sollte ich es respektieren, dass ein Schritt nach dem anderen gegangen werden muss. Zunächst muss in die Köpfe der breiten Masse, dass auch Menschen mit untypischen Genitalien und Chromosomen Frauen und Männer sein können. Dann kann man sich der Frage zuwenden, wie typisch und klischeehaft wir ansonsten sein müssen, wenn wir schon die falschen Erbanlagen haben.
Auf der Negativseite steht auch, dass Jenner aktuell (2021) den Ausschluss von trans Mädchen vom Mädchen-Sportunterricht ausdrücklich begrüßt. Damit steht sie auf der Seite derer, die viel Leid bei trans Kindern verursachen.
Zusammenfassung
Die positiven Aspekte überwiegen für mich! Mit Jenner hat die Mauer, die nach wie vor zwischen uns und der vollständigen Gleichstellung von Transgendern steht, einen weiteren großen Riss bekommen. Das ist so gerade weil Jenner politisch so konservativ ist.
Folgende Lektionen kann man aus dem Fall von Caitlyn Jenner ziehen:
- egal, wie männlich eine Person zu sein scheint, sie kann trotzdem eine Frau sein (Und umgekehrt gilt das selbstverständlich auch)
- egal, wie hart man es versucht, das Thema kann man nicht überwinden
- egal, wie alt man wird, es ist nicht zu spät für einen Neustart
- egal, wie kompliziert die persönliche Lage ist, irgendwie muss man mit dem Thema umgehen
- egal, wie konservativ das eigene Geschlechterbild ist, trans kann man trotzdem sein
Auf jeden Fall wird Caitlyn Jenner vielen anderen Mut machen. Und das ist gut so.
© Jula Böge 2015, Überarbeitung 2021