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Wem sage ich es?

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Ein wichtiges und subjektiv wohl das schwierigste Thema für viele von uns ist die Frage, wem ich etwas von meiner Besonderheit erzähle und was ich ihm dann sage. Dieser Text widmet sich dem ersten Teil des Problems, der schwierigen Entscheidung vor der wir immer wieder stehen: Reden oder lieber Verschweigen.

Die Transsexuellen unter uns werden wohl nicht darum herumkommen, irgendwann „alle Welt“ über sich zu informieren. Die eher fetischistisch Orientierten werden eventuell gut damit zurecht kommen, es niemandem zu sagen, wenn sie es schaffen, sich von ihrem Partner oder ihrer Partnerin nicht erwischen lassen 😉

Vielen ergeht es jedoch wie mir: die Neigung ist zu „offensiv“ um sie komplett geheim halten zu können, es gibt aber auch keine unabweisbare Notwendigkeit, sie in jedem sozialen Kontext (Familie, Verwandtschaft, Freunde, Bekannte, Job) offenzulegen. Daraus ergibt sich die Frage, was man nun wem sagt.

Ich selbst habe lange, viel zu lange in der Position „Das darf niemals irgendjemand erfahren!“ verharrt und mir selbst dadurch eine Menge zugemutet. Mittlerweile gibt es einige Menschen – aber immer noch wenige – die beide Seiten von mir kennen. Und ich lebe zwischen den Alternativen es vielen zu sagen und damit schwer zu kalkulierende Chancen und Risiken einzugehen oder es möglichst niemandem zu sagen und damit meine Handlungsmöglichkeiten stark einzuengen.

In dieser Situation vertraue ich auf Regeln, die mir helfen mich (hoffentlich richtig) zu entscheiden.

Regel 1: Er oder Sie muss „es wert sein“

Nach einer langen Phase der Scham bin ich mittlerweile so selbstbewusst, dass ich zu mir stehen kann. Ich habe eine Besonderheit, die mir Erfahrungen ermöglicht, die nicht vielen zugänglich sind (na gut, die meisten wollen diese Erfahrungen ja auch gar nicht). Dieses „Mehr“, das über den Horizont vieler hinausgeht, muss ich nicht jedem auf die Nase binden, sondern ich kann es verschenken, wenn ich es schenken will. Und mit Geschenken muss der Beschenkte etwas anfangen können.

Wenn ich also das Gefühl habe, dass jemand nicht offen für andere Sichtweisen ist oder sie auch nicht braucht …. warum sollte ich sie ihm aufdrängen? Wenn sich jemand ganz sicher ist, wie ich seiner Meinung nach bin und unreflektiert Vorurteile auf mich überträgt, warum sollte ich ihn verunsichern? Es gibt aber Menschen, die sind offen und sie interessieren sich für mich, sie nehmen mich als Mensch wahr und nicht nur in irgendeiner Rolle, die ich grade so gut es geht ausfülle. Solche Menschen könnten mit meinem Geschenk etwas anfangen, denn es hilft ihnen, mich besser zu verstehen.

Kurz: Ich habe etwas zu verschenken und das kriegen nur Leute, die ich beschenken möchte und die sich voraussichtlich darüber freuen können.

Regel 2: Ich muss etwas davon haben

Ja, das ist knallhart egoistisch. Wenn ich jemandem so vertraue, dass er so viel von mir erfährt, dann muss ich auch etwas davon haben! Das kann viel oder wenig sein und ist auf keinen Fall mehr als der/die andere zu geben bereit und in der Lage ist, aber es ist zu wenig, es bloß zu sagen „um ehrlich zu sein“.

Der Begriff „Vorteil“ ist für ich weit gefasst und eher immateriell gemeint. Meine Partnerin z.B. muss es wissen, damit ich mich nicht immer und überall verstecken muss und ihr gegenüber wirklich „ich selbst“ sein kann. Andere erfahren es, damit sie mir mit Rat und Hilfe zur Seite stehen können oder damit ich als Frau überhaupt irgendwo hin kann. Meine engsten Freunde sollten es wissen, weil sie mich sonst nicht verstehen können und ich sie über manches belügen müsste. Jemanden nicht belügen zu müssen, der mir wichtig ist, ist schon ein Vorteil, den ich akzeptiere!

Kurz: meine Situation sollte, nachdem ich es jemandem gesagt habe, besser sein als vorher. Ist sie das voraussichtlich nicht, dann habe ich nichts davon es zu sagen und schweige.

Regel 3: Es darf dem/der anderen nicht schaden

Ich habe (Notsituationen natürlich ausgenommen) nicht das Recht im eigenen Interesse andere zu verletzen oder zu beeinträchtigen. Kein individueller Vorteil rechtfertigt es, auf Kosten der Integrität anderer Personen gewonnen zu werden (ja, ich bin Moralistin).

Der Anwendungsbereich dieser Regel ist aus meiner Sicht sehr schmal, da die meisten Menschen schon auf sich selbst aufpassen können, aber z.B. in Bezug auf Kinder sollte man sich schon sehr gründlich Gedanken machen, ob man zu einem bestimmten Zeitpunkt aus Eigeninteresse heraus nicht zu viel Last auf ihre Schultern legt.

Kurz: ich teile mich nur Leuten mit, die mit dem Wissen auch zurechtkommen werden

Das war’s!

Drei Regeln, an die ich mich halte. Sie ermöglichen mir, die Freiräume zu bekommen, die ich brauche. Und sie bewahren mich davor, durch naive Offenheit an falscher oder unnötiger Stelle vermeidbaren Ärger zu verursachen.

© Jula 2003

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