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Wie funktioniert Passing?

  • von
Torwächter

Warum behandeln mich Menschen als Frau, obwohl ich ihrem Modell einer Frau vielleicht gar nicht entspreche?

Dass Passing so etwas wie der heilige Gral von Transgendern ist, darüber hatte ich schon geschrieben: Passing. Dort hatte ich mich den praktischen Aspekten zugewandt sowie der Frage, warum Passing für uns so wichtig ist.

Aber welche Mechanismen sorgen dafür, dass man Transgender „passieren lässt“, ihnen also das dargestellte Gender zugesteht?

Den einfachsten Aspekt, der allerdings am schwersten und für sehr viele von uns gar nicht zu erreichen ist, nehme ich vorweg: Natürlich kann es sein, dass wir im Gender, das unserer Identität entspricht, so perfekt unauffällig sind, dass niemand auf die Idee kommt, wir wären nicht in diesem Gender geboren.

Doch, das gibt es. Ich kenne sogar solche Personen. Aber sie sind nun mal die seltene Ausnahme und für mich kann ich das ausschließen. Ich muss darauf setzen, dass ich trotz sichtbarer Defizite als Frau passieren darf.

Theoretisch gibt es beim Passing nur zwei verschiedene Fälle:

  • Fall 1: Eine Person nimmt mich wahr und ich entspreche ihren Vorstellungen davon, was eine Frau ist.
    Kurz: Sie ist überzeugt.
  • Fall 2: ich werde wahrgenommen, entspreche aber nicht dem Modell der Person von einer Frau, sie lässt mich aber trotzdem passieren, also behandelt mich als Frau.
    Kurz: Sie ist zwar nicht überzeugt, aber sie stellt ihre Bedenken zurück.

Diese beiden Fälle möchte ich genauer betrachten. Obwohl das Ergebnis das Gleiche ist (ich werde als Frau behandelt), laufen unterschiedliche Prozesse ab.

Die Wichtigkeit der Modelle

Schon die Beschreibung der beiden Fälle hat deutlich gemacht, dass der Ausgangspunkt des Prozesses das Modell ist, das die jeweilige Person von Gender hat.

Auch wenn es uns meist nicht bewusst ist und wir vermutlich auf die Frage „Was ist ein Mann / eine Frau?“ nicht direkt eine wirklich stimmige Antwort hätten, haben wir ein solches Modell doch im Kopf und es sagt uns meist ohne bewusstes Nachdenken, welches Gender wir einer Person zuweisen.

Es gibt jedoch nicht nur ein Modell von Gender, sondern verschiedene. Nicht nur in unterschiedlichen Gesellschaften oder zu unterschiedlichen Zeiten, sondern auch in unserer Gesellschaft. Bei uns gibt es im Wesentlichen zwei verschiedene Modelle für die Zuweisung von Gender:

Modell 1: Gender richtet sich nach dem Körper

Das ist ein weites Feld, denn hier sind aufgrund der biologischen Varianz  verschiedenste Zugänge möglich: Genotyp, Gonaden, Genitalien.

Sicherlich die verbreitetste Faustformel liefert die Orientierung an den Genitalien: Penis = Mann, Vagina = Frau. Diese einfache Formel ist das, wovon die meisten Menschen überzeugt sind.

Modell 2: Gender richtet sich nach der dargestellten Rolle

Das ist die Gegenposition. Nach ihr wird jeder Person das Gender zugestanden, dass sie für andere erkennbar für sich beansprucht.

Diese Sicht der Dinge beanspruchen die meisten, aber auch nicht alle Transgender für sich. Es gibt auch Transgender, die der Mehrheitsmeinung folgen, und für sich den Körper zum Maßstab ihres Gender machen.

Egal welches der beiden Modelle Personen nun im Kopf haben, was folgt ist immer gleich: Andere Menschen weisen mir mein Gender dadurch zu, indem sie einen Abgleich zwischen ihrem Modell von Gender und ihren Wahrnehmungen von mir übereinbringen.

Im Kern ist das nichts anderes als logisches Schließen:  Obersatz, Untersatz, Schlussfolgerung. Der Obersatz ist dabei das Modell von Gender, also z.B. „Männer sind Menschen mit Penis“ oder „Frauen sind Menschen, die wie Frauen aussehen.“ Der Untersatz sind die Wahrnehmungen und die Schlussfolgerung ist dann die konkrete Zuweisung eines Gender.

Doch ganz so linear ist es nicht. Ungeachtet der Tatsache, dass die meisten Menschen das Modell „Gender richtet sich nach den Genitalien“ im Kopf haben, verhalten sie sich Alltag flexibler. Der Grund dafür: Genitalien werden in unserer Gesellschaft nicht offen präsentiert! Es bleibt also nur die Möglichkeit, aus anderen Indizien auf die Beschaffenheit des Unterleibs zu schließen. Dadurch entsteht eine Unsicherheit. Diese Unsicherheit schafft den Spielraum dafür, dass die Zuweisung von Gender überhaupt eine eigene Entscheidung ist und nicht bloß ein Automatismus.

Obwohl also die beiden Modelle sehr unterschiedlich sind, laufen sie in der Alltagspraxis auf das gleiche Hinaus: ich muss Informationen über eine Person wahrnehmen und interpretieren, damit ich ihr das nach meinem Modell richtige Gender zuweisen kann.

Fall 1: Überzeugung

Der wünschenswerte Fall beim Passing ist, dass die andere Person tatsächlich die Überzeugung hat, dass ich eine Frau bin.

Für die Feststellung, was mein Gender ist, gibt es zwei Informationsquellen: Die eigene Wahrnehmung und das Urteil anderer.

Die Frage, wie es sein kann, dass ich trotz erheblicher körperlicher Unstimmigkeiten von anderen Menschen für eine „ganz normale“ Frau gehalten werde, habe ich aus wahrnehmungspsychologischer Sicht schon ausführlich in meinem Kugelartikel behandelt. Wir sehen nun einmal nicht objektiv, sondern unsere Erwartungen und Vorurteile prägen sehr stark was wir wie wahrnehmen.

Doch selbst, wenn die eigene Wahrnehmung dagegen spricht, ist noch nicht gesagt, dass die Person nicht vielleicht doch von meiner Weiblichkeit überzeugt ist.  Das Stichwort dazu heißt Konformitätsdruck. Es ist belegt(1), dass Menschen nur sehr bedingt zum Widerspruch neigen, wenn andere nur glaubhaft genug Dinge behaupten, die der eigenen Wahrnehmung widersprechen!

Menschen verhalten sich konform, weil sie zwei Interessen beim Abgeben einer Beurteilung haben:

  • sie möchten richtig urteilen
  • auf andere einen guten Eindruck machen

Wenn das eigene Urteil mit dem anderer übereinstimmt, gibt dies eine stabile Sicht der Umwelt. Wenn nicht, dann muss man sich entscheiden

Aus dem Konformitätsdruck folgt die Wichtigkeit von „Verbündeten“, wenn es darum geht Dritte zu überzeugen, wer wir wirklich sind. Es hat eine Signalwirkung für andere, wenn Menschen als Frau von mir sprechen. Ihre Realität beeinflusst die Realität anderer. Mich würden sie ja vielleicht noch in Frage stellen. aber doch nicht die andere Person, die ihnen vermutlich näher steht.

Fall 2: Fügsamkeit

Doch selbst dann, wenn eine Person der Überzeugung ist, ich könne keine Frau sein, weil ich ihrem Modell von „Frau“ nicht entspreche, bedeutet das nicht, dass sie mich nicht als Frau akzeptiert oder zumindest hinnimmt. Zwar haben die meisten Menschen ein anderes Modell von Gender, doch  die gesellschaftliche Regel „Behandele jede Person so, wie sie behandelt werden möchte“ ist ein starkes Korrektiv.

Wiederum gibt es zwei Unterfälle.

Da ist zum einen die schlichte Nettigkeit oder Höflichkeit. Die Person schlussfolgert aus meiner Selbstdarstellung, wie ich gerne gesehen werden möchte, und sie tut mir den Gefallen. Diese Position ist in unserer Gesellschaft zumindest in der bürgerlichen Schicht sehr verbreitet.

Auch dann, wenn die Person weder nett noch höflich sein möchte, kann sie eventuell trotzdem darauf verzichten, ihre Sicht der Dinge durchzusetzen. Mir würde die Person den Gefallen zwar nicht tun, aber sie scheut vor den Konsequenzen einer Konfrontation mit ihrer Sicht der Dinge zurück.

Menschen die eigenen Regeln und Modelle aufzwingen zu wollen ist nicht nur unhöflich, sondern es provoziert auch Konflikte. Nicht nur Konflikte mit der jeweils konkret betroffenen Person, sondern auch Konflikte mit anderen Menschen, die das mitbekommen und eventuell nicht billigen.

Das mag in anderen Gesellschaften, speziell konservativ-religiös geprägten anders sein, doch in aufgeklärten Industriestaaten kann man sich nicht sicher sein, dass man die Mehrheit hinter sich hat, wenn man einer Person das von ihr dargestellte Gender verweigert, weil sie eine abweichende Körperlichkeit zu haben scheint.

Fügsamkeit mag wie der Trostpreis wirken, doch tatsächlich macht es für mich gar keinen Unterschied, warum mich jemand als Frau behandelt. Ich werde sowieso nur selten die inneren Motive meines Gegenübers erfahren. Im Ergebnis ist es das gleiche: ich werde als Frau behandelt und bin zufrieden.

Schlussfolgerungen

  • Ich muss nicht zu 100% überzeugend aussehen, damit ich im gewünschten Gender akzeptiert werde.
  • Aber ich muss hinreichend deutlich und glaubhaft die gewünschte Zugehörigkeit kommunizieren. Denn wenn ich den Modellen nicht im Mindesten entspreche, ist auch kein Passing möglich. Ich muss nicht dazugehören wollen, aber wenn ich dazugehören will, muss ich mich an die Erwartungen und Konventionen halten, die an Mitglieder dieser Gruppe gerichtet werden. Ich kann nicht die Erwartungen negieren und erwarten, dass mir die Zugehörigkeit zugestanden wird.
  • Menschen, die mich akzeptieren, erzeugen durch ihre Akzeptanz einen Konformitätsdruck in Richtung auf den Rest der Gesellschaft.
  • Selbst dann, wenn ich den inneren Modellen einer Person nicht entspreche, bedeutet das nicht, dass sie mir das Passing verweigern wird.
    Vielleicht ist Fügsamkeit, egal ob aus Nettigkeit oder nur zur Vermeidung von unnötigen Konfrontationen sogar der häufigste Grund, warum Personen wie mir, das beanspruchte gender zugestanden wird.
  • Für das Ergebnis sind die Gründe egal! Es ist nicht wichtig, ob andere Menschen überzeugt sind, dass ich eine Frau bin. Wichtig für mein Selbstverständnis und meine Selbstverwirklichung ist lediglich, dass sie mir dieses Gender zugestehen.

Zum Glück! Denn wenn ich warten müsste, bis sich gesamtgesellschaftlich die Modelle so geändert haben, wie ich das richtig finde, dann wäre das echt schlimm für mich!

Querverweise

© Jula Böge 2016


(1) Es gibt eine Menge Studien zum Konformitätsdruck. S. a. https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Gruppenzwang&redirect=no „Menschen passen nicht nur ihr Äußeres an verschiedene, oberflächliche Modeerscheinungen an, sondern orientieren ihre Meinung oft an der Mehrheitsmeinung, selbst wenn diese nicht ihrer eigenen entspricht. Diese Anpassungsfähigkeit spielt eine wichtige Rolle beim Erwerb kulturspezifischen Verhaltens. Wir erwerben dieses, indem wir uns am Verhalten anderer Gruppenmitglieder orientieren. Werden wir dabei von Anderen mit Informationen konfrontiert, die im Widerspruch zu unseren eigenen Ansichten stehen, übernehmen wir im Zweifelsfalle die Meinung der Mehrheit.“

Besonders interessant sind Studien mit Kindern im Vorschulalter, weil der Konformitätsdruck offensichtlich schon bei kleinen Kindern existent ist. Folglich hat er große Macht! http://www.mpg.de/4611532/gruppenzwang_vorschulalter

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