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YP plus 10

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Nein, das ist keine seltsame Formel für die Berechnung des Gewichts, sondern der Name einer aktuellen Revision der Yogyakarta Prinzipien.

Obwohl die Yogyakarta Prinzipien von 2006 (hier die deutsche Übersetzung der Hirschfeld-Eddy-Stiftung) für die Rechte von queeren Personen wegweisend sind, sind sie bisher erschreckend unbekannt geblieben. In Deutschland wurden sie bisher nicht offiziell als Teil der Menschenrechtscharta anerkannt.

Die Welt hat sich weitergedreht. Im Bereich der Menschenrechte hat sich vieles getan, viele Probleme liegen jetzt aber auch klarer zutage. Einige Aspekte, wie z.B. das Internet und der Zugang zu Kommunikationstechnologien sind 2006 noch nicht im Fokus gewesen. Daneben gab es wissenschaftliche Fortschritte z.B. bei der Pränataldiagnostik oder der Reproduktionsmedizin.

Anlässlich des 10. Jahrestages der Yogyakarta Prinzipien (deshalb YP plus 10) wurden die Prinzipien deshalb einer Revision und Erweiterung unterzogen.

Überblick

Neben der Ergänzung weiterer 9 Prinzipien wird der Diskriminierungstatbestand genauer beschrieben und umfasst nun vier Merkmale: Sexuelle Orientierung (sexual orientation), Genderidentität (gender identity), geschlechtlicher Ausdruck (gender expression) sowie Geschlechtsmerkmale (sex characteristics). Dadurch wird jetzt sehr viel genauer auf Transgender und Intersexuelle Bezug genommen.

Geschlechtlicher Ausdruck wird definiert als die Präsentation des Genders einer Person durch ihre äußerliche Erscheinung, inclusive Kleidung, Frisur, Accessoires und Kosmetik, sowie Eigenarten, Sprache, Verhaltensmuster, Namen und Selbstreferenzierung. Dabei wird anerkannt, dass der geschlechtliche Ausdruck der Geschlechtsidentität entsprechen kann oder auch nicht.

Mit dieser Definition wird klargestellt, dass auch Personengruppen wie z.B. Dragqueens oder -kings oder auch Crossdresser, die sich mit ihrem körperlichen Geschlecht identifizieren, von den Yogyakarta Prinzipien geschützt werden sollen.
Unter Geschlechtsmerkmale werden die persönlichen Eigenschaften einer Person bezüglich ihres körperlichen Geschlechts verstanden. Dies schließt Genitalien und die anderen Geschlechtsorgane ein, sowie die Chromosomen, Hormone und sekundäre Geschlechtsmerkmale.

Der Anwendungsbereich der Yogyakarta Prinzipien wird damit explizit auf sog. intersexuelle Personen erweitert, bei denen allein schon die nicht normkonforme Körperlichkeit Auslöser von Konflikten und Diskriminierungen sein kann.

Das deutsche AGG, das ebenso wie die Yogyakarta Prinzipien 2006 entstand, kennt als Diskriminierungsmerkmale lediglich „Geschlecht“ und „sexuelle Identität“. Gender wird ausdrücklich nicht erwähnt. Zwar gehen die Interpretationen davon aus, dass auch Diskriminierungen z.B. wegen genderuntypischem Verhalten von den Merkmalen mitgemeint sind. doch „mitgemeint“ ist schon weniger als eine ausdrückliche Erwähnung.

Neben der Präzisierung der Diskriminierungsmerkmale und der Erweiterung der Zahl der Prinzipien wurde auch der Katalog der staatlichen Verpflichtungen erweitert.

Die neuen Prinzipien möchte ich im Folgenden kurz vorstellen. Auf die Ergänzungen bei den staatlichen Verpflichtungen sowie der weiteren Verpflichtungen gehe ich nur exemplarisch ein.

Die neun neuen Prinzipien

Die Yogyakarta Prinzipien haben einen weltweiten Fokus haben. Weil siealso auch Staaten im Blick haben, in denen die Menschenrechtssituation, die Rechtstaatlichkeit und der gesellschaftliche Wohlstand nicht auf europäischem Standard sind, klingt manches für uns nach Selbstverständlichkeiten. Doch an der einen oder anderen Stelle gibt es selbst in Deutschland noch Handlungsbedarfe, wenn man die Prinzipien als Maßstab nimmt.

· 30 – The Right to State Protection (Das Recht auf staatlichen Schutz)
Mit diesem Prinzip wird der staatliche Schutz vor Diskriminierung und Gewalt für die vier Merkmalsgruppen eingefordert. Wie bereits erwähnt, bleibt das derzeit geltende AGG hinter dieser Forderung zurück.

· 31 – The Right to Legal Recognition (Das Recht auf rechtliche Anerkennung)
Die Forderung, dass nur relevante Informationen in staatlichen Dokumenten stehen. Dazu gehören Geschlecht und Gender eher nicht.
Wenn solche Informationen in solchen Papieren stehen, sollen sie wenigstens schnell änderbar sein. Gefordert werden schnelle, transparente und zugängliche (was wohl auch heißt: preiswerte) Mechanismen für die Änderung des Namens oder des Personenstandes. Zudem wird eine Mehrzahl von möglichen Geschlechtsoptionen verlangt. Letzteres hat auch das BVerfG in seinem Beschluss (siehe dazu ausführlich meinen Artikel Das Dritte Geschlecht) gefordert.
In diesem Zusammenhang möchte ich auf die seit vielen Jahren ergebnislos gebliebenen Bemühungen verweisen, in Deutschland endlich ein verfassungsmäßiges Personenstandsrecht für Transgender zu schaffen. Verweis: Das TSG muss weg!
Zweifelhaft ist in diesem Zusammenhang auch die Regelung im deutschen Namensrecht, dass jedes Kind einen eindeutig männlichen oder weiblichen Vornamen haben muss.

· 32 – The Right to Bodily and Mental Integrity (Das Recht auf körperliche und geistige Integrität)
Das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit ist eine Selbstverständlichkeit – eigentlich. Doch insbesondere viele Intersexuelle können dazu Erschreckendes berichten! Viele von ihnen sind Opfer von Sterilisationen und „normalisierenden“ Operationen an den Genitalien im Kindesalter geworden und müssen ihr ganzes Leben mit den Folgen kämpfen. Näheres hierzu findet man z.B. in der Dokumentation und der darauf aufbauenden Stellungnahme des Ethikrates.

· 33 – The Right to Freedom from Criminalisation and Sanction (Das Recht auf Freiheit von Kriminalisierung und Strafe)
Es ist ein Hammer, dass dieses Prinzip jetzt erst dazu gekommen ist.
Auch wenn die Abschaffung des § 175 StGB erst spät erfolgte, ist bei uns die Strafbarkeit zum Glück Vergangenheit. Doch es gibt immer noch zu viele Länder, in denen Homosexualität strafbar ist.

· 34 – The Right to Protection from Poverty (Das Recht auf Schutz vor Armut)
Dieses Recht wirkt zunächst etwas seltsam, weil es doch immer noch viele Ländern gibt, in denen alle arm sind. Allerdings gibt es selbst in reichen Ländern die Situation, dass Personen arm werden, weil sie nicht genderkonform sind. So ist es eine Tatsache, dass in Deutschland das Coming Out als Transgender häufig immer noch mit sozialem Abstieg (insbesondere durch Verlust des Arbeitsplatzes) verbunden ist.

· 35 – The Right to Sanitation (Das Recht auf sanitäre Einrichtungen)
Angstfreier und würdevoller Zugang zu sanitären Einrichtungen und Hygiene! Man sollte meinen, das sei zumindest in den reichen Industriestaaten eine Selbstverständlichkeit. Jedoch hat mich die Toilettendebatte in den USA da eines Schlechteren belehrt.
Die Tatsache, dass es diesen Diskurs überhaupt gibt, lässt mich vermuten, dass sich manche Leute wünschen, dass Transgender und Intersexuelle gar nicht pinkeln sollten.

· 36 – The Right to the Enjoyment of Human Rights in Relation to Information and Communication Technologies (Das Recht auf menschenrechtskonforme Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien)
Dass Rechte online wie offline gelten, sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Wichtig ist aber die Betonung des Zugangs, insbesondere des sicheren, verschlüsselten Zugangs zu digitaler Kommunikation. Dazu gehört auch das Recht auf Anonymität und Pseudonyme. Das wird Facebook eher nicht freuen.
Zwar sind Anonymität und Privatsphäre für alle Menschen essentiell, doch sind die hier geschützten Personengruppen in besonderem Maße beispielsweise auf Anonymität angewiesen. So sind Pseudonyme für viele Transgender keine Spielerei, sondern eine Notwendigkeit um ihr Lebenskonzept zu schützen.

· 37 – The Right to Truth (Das Recht auf Wahrheit)
Dabei geht es einerseits um das individuelle Recht von Personen, die Details und Hintergründe erlittener Verletzungen zu erfahren. Andererseits geht es aber auch um die Information der Gesellschaft welche und wieviele solcher Vorkommnisse es gab. In Deutschland z.B. werden Hassverbrechen in der Kriminalstatistik nur sehr eingeschränkt als solche erfasst. Das bedeutet, dass das wirkliche Ausmaß von solchen Vergehen nicht bekannt ist. Somit kann man das Thema auch nicht auf Basis korrekter Zahlen diskutieren.

· 38 – The Right to Practise, Protect, Preserve and Revive Cultural Diversity (Das Recht kulturelle Diversität zu bewahren und zu leben)
Bei diesem Prinzip geht es darum, dass man geschlechtliche und/oder kulturelle Diversität nicht nur individuell haben darf, sondern dass man ihr auch öffentlich in Form von Festen oder Veranstaltungen Ausdruck verleihen darf. In Deutschland sind CSDs und andere queere Veranstaltungen akzeptiert. In der Türkei oder in Russland sieht das schon ganz anders aus.

Weitere staatliche Verpflichtungen

Insgesamt gibt es in YP+10 111 neue staatliche Verpflichtungen. Diese nicht nur in den neuen Prinzipien, sondern auch in den klassischen 29 von 2006.

· Ergänzungen zu Prinzip 2 (Gleichheit und Nicht-Diskriminierung)
Bei den Ergänzungen an dieser Stelle möchte ich zwei Aspekte besonders herausgreifen.

    o Sport
Dem Thema Sport widmet YP+10 gleich mehrere neue Verpflichtungen. Dabei geht es nicht nur um die Möglichkeit der sportlichen Betätigung selbst, sondern auch um die Gewährleistung des Schutzes vor Diskriminierung beim Sport.
Und es gibt weitere Empfehlungen, also solche an nicht-staatliche Stellen. So sollen Sportverbände die YP+10 in ihren Regelwerken umsetzen. Insbesondere sicherstellen, dass alle Personen, die Sport treiben wollen, dies auch tun dürfen.

    o Vorgeburtliche Diagnose
Pränataldiagnostik gehört heute zum Standard gynäkologischer Beratung. Ein Screening und schon ein paar Tage später hält man den Befund in Händen, ob das Kind genetische Auffälligkeiten zeigt.
Eine Folge davon ist, dass in unserer Gesellschaft immer weniger Menschen mit Trisomie 21 geboren werden. Wie würden sich werdende Eltern entscheiden, wenn man z.B. bestimmte Formen der Intersexualität oder Homosexualität oder Transidentität pränatal erkennen könnte?

· Ergänzungen zu Prinzip 10 (Schutz vor Folter, grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe)
Hier geht es insbesondere um Zwangsbehandlungen, insbesondere um Zwangssterilisationen oder auch unfreiwillige Operationen zur „Normalisierung“ von Genitalien. Ebenso gehören dazu die sog. Konversionstherapien zur „Heilung“ von Homosexuellen.
Auch die in einigen Ländern üblichen Prügelstrafen für Homosexuelle gehören dazu.

· Ergänzungen zu Prinzip 16 (Bildung)
Hier wird u.a. eine Berücksichtigung der Thematik bei der Lehrerfortbildung gefordert.
Die Information in Schulen über Diversität bei Geschlecht und Gender ist auch bei uns in Deutschland nicht selbstverständlich. Bestimmte Personenkreise laufen regelmäßig Sturm, wenn versucht wird, diese Themen in die Lehrpläne zu integrieren. Entsprechend schleppend verläuft die Einbeziehung der Thematik in verschiedenen Bundesländern.
Siehe dazu auch meinen Artikel für die Nürnberger Elternvertreter/innen.

· Ergänzungen zu Prinzip 17 (bestmögliche Gesundheitsversorgung)
Dazu gehört die staatliche Verpflichtung, z.B. bei den Regelungen über Blutspenden nicht zu diskriminieren. Näheres zum Ausschluss homosexueller Männer von der Blutspende gibt es hier.

Meine Einschätzung

Durch die Revision haben die Yogyakarta Prinzipien für Personen wie mich an Bedeutung gewonnen. Zudem werden endlich auch explizit Intersexuelle berücksichtigt.
Vieles steckte schon immer in den alten 29 Prinzipien drin. Doch einiges musste deutlicher gesagt werden.

Die Wahrnehmung der vielfältigen Formen von Geschlechts- und Genderdiversität ist immer noch unzureichend. Es gibt eben nicht nur Homosexuelle und Transsexuelle mit dem Wunsch nach geschlechtsangleichenden Operationen, sondern viele, viele andere Erscheinungsformen mehr. Diesen allen müsste nach einer menschenrechtskonformen Neuregelung des Personenstandsrechts Rechnung getragen werden.

Siehe z.B. den Entwurf eines Geschlechtervielfaltgesetzes bzw. meinen Artikel dazu , das in der aktuellen Form aus Rücksicht auf die CDU und CSU wohl wieder nicht vom Familienministerium als Gesetzesentwurf in den Bundestag eingebracht wird.
Es gibt intersexuelle Personen, die sich objektiv nicht einem von zwei Geschlechtern zuordnen können. Das hat das BVerfG bereits mit dem Beschluss vom 10. Oktober 2017 anerkannt.

Zwar gibt es in Deutschland das AGG, aber es spricht die Geschlechts- und Genderdiversität nicht explizit an. Deshalb stehen viele Transgender in Deutschland immer noch im Schatten der Antidiskriminierungsbemühungen. Gerade die Personen, zu denen auch ich gehöre, die einen ganz individuellen Weg zwischen den Gendern gehen, in beiden oder auch jenseits davon, finden keine ausdrückliche  Berücksichtigung. Deshalb ist mir Formulierung der vier verschiedenen Aspekte Sexuelle Orientierung, Genderidentität, geschlechtlicher Ausdruck sowie Geschlechtsmerkmale so wichtig. So können die YP+10 ein Muster für eine Neuformulierung der Diskriminierungsmerkmale im AGG sein.

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© Jula Böge 2018

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